Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition)
Spannung zu, wie sich ein doppelter Boden zurückzog. Darunter wurde der Blick auf ein kleines Fach sichtbar. Es bildete eine Vertiefung unter dem hinteren Drittel der Schublade, das sich nicht aus dem Schreibtisch herausziehen ließ.
Ein kleines, leinengebundenes Büchlein befand sich darin.
Es wirkte sehr alt und war gewiss seit langer Zeit nicht nicht mehr aus dem Fach herausgenommen worden.
Eine Staubschicht hatte sich auf dem Einband abgesetzt.
Tante Lizzy nahm es mit zitternder Hand heraus.
"Das ist es also, was dieses Fach enthielt..."
"Es muss dem Vorbesitzer sehr viel Wert gewesen sein, dass er es hier versteckt hat", meinte ich.
Conroy schob die Schublade wieder hinein, um sie im nächsten Moment erneut herauszuziehen. Aber nun war von der Vertiefung im hinteren Drittel nichts mehr zu sehen. Die Schublade ließ sich nun auch wesentlich weiter herausziehen, ehe sie gegen einen Widerstand stieß.
"Eine geniale Konstruktion", meinte der junge Conroy.
Sein Vater nickte. "Könnte aus der Werkstatt von Adriano Inchingoli kommen, einem Meister aus Florenz, der zu den berühmtesten Geheimfachkonstrukteuren des frühen 18. Jahrhunderts zählte."
Tante Lizzy blätterte indessen in dem Buch.
"Worum handelt es sich?", fragte ich.
"Es ist ein Notizbuch", erwiderte sie. "Verfasst in einer Handschrift, die mir nur allzu bekannt ist... Nein, das ist nicht möglich!"
Tante Lizzy war völlig fasziniert.
Sie hielt mir das Buch hin.
Ich zuckte nur verständnislos die Achseln.
"Ich werde das natürlich genauer überprüfen lassen, aber wenn mich nicht alles täuscht, dann ist dies die Handschrift von keinem Geringeren als Hermann von Schlichten!", sagte Tante Lizzy sichtlich ergriffen.
*
Später, als die Conroys gegangen waren, verwandelte sich die provisorisch wirkende Ordnung der Bibliothek im Handumdrehen in etwas, das jeder Außenstehende als Chaos angesehen hätte.
Jeder, außer Tante Lizzy.
Dutzende von Büchern zog sie aus den Regalen heraus. Und ich half ihr dabei, einen großen Karton aus dem Keller heraufzuschleppen, der nichts anderes als Briefe enthielt.
Briefe, die der deutsche Okkultist Hermann von Schlichten um die Jahrhundertwende mit verschiedenen Gönnern und Gleichgesinnten auf den britischen Inseln gewechselt hatte.
So unter anderem mit einem Hutmacher aus Bristol, der die obskuren Forschungen von Schlichtens großzügig unterstützt hatte.
Tante Lizzy hatte einige dieser Briefwechsel antiquarisch erworben und inzwischen zu einem großen Teil auch geordnet.
Hermann von Schlichten war gleichermaßen einer der genialsten und geheimnisumwittersten Personen, die sich mit der Erforschung des Übersinnlichen befasst hatten.
Sein großes Kompendium des Übersinnlichen, ein Buch mit dem Titel ABSONDERLICHE KULTE, verfasste von Schlichten in mittelalterlichem Latein. Damit hatte er die schwarzen Rituale und Beschwörungen, die es in großer Zahl enthielt, vor dem Zugriff Unbefugter bewahren wollen.
Den in den Händen gewissenloser Menschen waren diese Rituale eine furchtbare Waffe, mit der äonenaltes Grauen heraufbeschworen werden konnte. Dämonen, Untote, magische Wesen und Verbindungen in andere Dimensionen und ihren nichtmenschlichen Bewohnern, denen das Schicksal der Menschen so gleichgültig war, wie uns der Tod eines erschlagenen Insekts.
Tante Lizzy besaß neben einem Original-Exemplar der ABSONDERLICHEN KULTE auch mehrere Übersetzungen, die sich jedoch teilweise erheblich unterschieden.
Der Streit um die richtige Interpretation mancher Stellen in diesem Kompendium des Unvorstellbaren, würde unter Okkultismus-Forschern sicher noch Jahrzehnte andauern.
Hermann von Schlichten schien von dem Gedanken an eine Verschlüsselung seines Werkes geradezu besessen gewesen zu sein und so gab es Spekulationen darüber, dass manche Stellen in den ABSONDERLICHEN KULTEN zusätzlich chiffriert worden waren.
Außerdem gab es immer wieder Gerüchte darüber, dass es vielleicht noch einen zweiten, verschollenen Band der ABSONDERLICHEN KULTE gegeben hatte.
Zumindest legten einige Stellen in von Schlichtens umfangreicher Korrespondenz diesen Schluss nahe.
Tante Lizzy hatte das Notizbuch auf einen der kreisrunden Tische gelegt, die sich in der Bibliothek befanden. Sie hielt einen der Briefe daneben. Sorgfältig strich sie das vergilbte Papier glatt.
"Sieh nur, Patricia! Ich werde natürlich ein graphologisches Gutachten einholen, aber ich verstehe inzwischen durchaus genug selbst von der
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