Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition)
worden waren. Ein bestialischer Gestank schlug uns entgegen. Der Fang einer ganzen Nacht war noch in den Netzen und verrottete in der unbarmherzigen Schwüle des Dschungels. Unmengen von Insekten lockte der Verwesungsgeruch an.
Selbst der unverwüstliche Sun wurde jetzt nachdenklich.
"Sieh nur, die Knochen", flüsterte ich an Tom gewandt. Sie lagen auf einem kleinen Haufen da. Gebeine, die aussahen wie dahingeworfene Skelett-Teile, plötzlich ihres Fleisches beraubt und ohne Halt.
Das Grauen schüttelte uns, während wir den nur aus einer Handvoll Hütten bestehenden Ort durchquerten.
"Ich habe so etwas noch nie gesehen", murmelte Sun düster. Selbst Haustiere - Hühner, Hunde, Katzen und einige Zebu-Wasserbüffel waren vollkommen skelettiert.
"Meine Männer sind Angsthasen", meinte Sun. "Wird wohl besser sein, wenn wir wieder flussabwärts fahren. Sonst drehen die beiden noch durch..."
"Nein ", erwiderte Tom. "Nicht so nah vor dem Ziel..."
"Hören Sie, Mister... Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber ich habe keine Lust, ebenso als Haufen Knochen zu enden, wie diese armen Leute hier..." Sun trug seine Kalaschnikow über der Schulter. Er nahm die Waffe jetzt herunter und hielt sie schussbereit mit beiden Händen. Während Tom sich mit ihm unterhielt, ging ich auf einer der Hütten zu. Ich ging hinein und sah mich um. Eine vage Ahnung hatte mich dazu veranlasst und ich hatte beschlossen, ihr nachzugeben. Der Inhalt der Hütte war bescheiden. Ein Steinofen befand sich in der Mitte. Der Ahnenschrein war unversehrt.
Und daneben...
Knochen.
Ein Totenschädel blickte mich mit leeren Augen an. Ich verließ die Hütte wieder und wandte mich einer weiteren zu.
Sie war etwas geräumiger. Es bot sich das gleiche, grauenvolle Bild. Drei Menschen hatten um die Feuerstelle herum gesessen, als das Grauen über sie kam...
Jetzt waren nur drei Gebein-Haufen zu sehen. Die Knochen waren ineinandergefallen. Der Schädel, der Torso und Arme und Beine.
Als ob der Tod ganz plötzlich über sie kam... Eine der Knochenhände umklammerte noch etwas. Ein Foto.
Ich nahm es vorsichtig aus der Knochenhand. Das Bild zeigte Jim Field mit einigen Dorfbewohnern. Sie hatten sich zu einer Art Gruppenbild aufgestellt. Offenbar hatten sie den Moment festhalten wollen, in dem ein Fremder ihr kleines, unbedeutendes Dorf besuchte. Oft war das in den letzten Jahren gewiss nicht vorgekommen.
*
"Hier, eine Spur von Jim!", rief ich und lief auf Tom zu. Er sah sich das Foto interessiert an. "Jim besaß eine Polaroid-Kamera mit Selbstauslöser. In der Linse war ein kleiner Kratzer... Da, unten rechts siehst du ihn auf dem Bild!"
"Warum ist das Bild so gelbstichig?", fragte Tom nachdenklich.
"Ich weiß nicht", zuckte ich die Achseln. "Vielleicht die Hitze..."
"Oder eine andere Art von Energie?"
"Jedenfalls war Jim hier! Das steht unzweifelhaft fest." Jetzt mischte sich Sun ein, der zunehmend nervöser wurde.
"Mich interessiert das alles herzlich wenig!", erklärte er. "Ich fahre wieder flussabwärts. Wenn Sie klug sind, kommen Sie mit!"
"Hören Sie!", erwiderte Tom. "Sie haben gesagt, dass..."
"Es ist mir egal, was ich gesagt habe. Hier ist irgend etwas Furchtbares geschehen und ich möchte nichts damit zu tun haben. Die Leute leben hier unter anderem vom Kunstraub, das weiß jeder... Da kann es schonmal zu Rivalitäten zwischen verschiedenen Banden kommen."
"Ich habe nirgendwo Erschossene gesehen!", erklärte Tom.
"Die Roten Khmer haben ihre Opfer auch nicht erschossen, sondern erschlagen, um Patronen zu sparen. Wer weiß, vielleicht liegt dieses Massaker ja schon länger zurück. In dieser Hitze schreitet die Verwesung schnell voran, Mister..."
Suns Stimme verstummte auf einmal.
Er blickte sich um. Seine Augen waren schreckgeweitet.
"Der Dschungel...", flüsterte er. "Es ist so ruhig..." Tom und ich wechselten einen kurzen Blick.
Bilder des grauenerregenden, vierfingrigen Wesens tauchten vor meinem inneren Auge auf. Schlaglichtartig durchlebte ich noch einmal meine Visionen. Ein unangenehmes Pochen machte sich hinter meinen Schläfen bemerkbar. Es war der mentale Druck einer unbekannten Macht...
Eines Wesens...
Die Stille...
Es war dieselbe Stille, wie ich sie in meinen Alpträumen erlebt hatte.
Ein Vorgeschmack des Todes... Als ob jegliches Leben von einem Augenblick zum anderen in Agonie verfallen ist!, durchschoss es mich siedend heiß.
"Tom, wir müssen hier weg!", rief ich. "Schnell!" Tom sah mich
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