Uhrwerk Venedig (German Edition)
Giacomo hinab, dem die Tränen der Verzweiflung in den Augen brannten. Der Mund des Mannes auf der Leinwand war zu einem stummen Schrei des Entsetzens verzogen. Dann blitzte ein so grelles Licht auf, dass Giacomo und Leonardo geblendet die Augen schlossen. Leonardo taumelte einen Schritt rückwärts und legte seine Arme schützend vor sein Gesicht. Die Machina surrte und rumpelte, die Arme mit den Prismen wurden langsamer, das Bild wurde dunkler. Doch bevor das Bild ganz verschwand, sahen die beiden noch, wie das Gesicht des Mannes im weißen Kittel schmolz wie Kerzenwachs, seine Haare brannten … dann stand die Machina still, und das Bild erlosch vollends.
»Vaterunserderdubistimhimmelgeheiligtwerdedeinname«, fielen die Worte des Gebets haltlos aus Giacomos Mund. Seine Augen brannten, sein Herz war voller Angst und Verzweiflung, und zugleich erfüllt von einem unheiligen Triumphgefühl.
Die Zukunft!
Seine Machina hatte ihm und seinem Meister einen Blick in die Zukunft gewährt!
Giacomo zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er blickte auf und sah seinem Meister ins Gesicht.
»Vernichte sie«, hauchte Leonardo atemlos in die Stille der Werkstatt. Giacomo schüttelte benommen den Kopf.
»Meister?«
»Ich sagte, du sollst dieses Teufelswerk vernichten.«
»Aber Meister! Wir haben einen Blick in die Zukunft des Men-«
»Nein!«, fuhr Leonardo seinem Meisterschüler mit ruhiger, aber bestimmter Stimme ins Wort. »Wir haben erblickt, was keines Menschen Auge je sehen darf. Wir müssen dieses Wissen, das nur einen Teil der ganzen Wahrheit darstellt, tief in unseren Herzen vergraben, mein junger Giacomo.« Leonardos Blick wurde weich, und jetzt sah Giacomo den Grund, warum er trotz aller Verbitterung über das Verhalten seines Meisters, zuerst ihm seine Machina und ihre Wirkung hatte zeigen wollen. In Leonardos Blick lag die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn, als er fortfuhr. »Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, zu wissen, was seine Zukunft bringt. Ich verstehe den Klerus nicht, der uns daran hindert Wissen zu sammeln und die Welt zu erforschen. Ich bin gerne bereit, jederzeit gegen die Verblendeten anzutreten. Aber das hier ist … « Er deutete mit einer schwachen Geste auf die Machina. »Das hier ist eindeutig Teufelswerk. Vernichte sie, Giacomo, mein Junge. Ich befehle dir, vernichte sie und alle Pläne, die du für sie gezeichnet hast! Sonst sehe ich mich gezwungen, persönlich dafür zu sorgen, dass du auf dem Scheiterhaufen endest.«
Leonardo wandte sich von Giacomo ab, der erschüttert seinem Meister hinterher sah. Die Schultern des Gelehrten waren kraftlos nach vorne gefallen, seine Schritte schwach. »Und vielleicht wäre das sogar kein Unrecht«, murmelte Leonardo, bevor er seinen Schüler sich selbst überließ.
2
Als Leonardo am nächsten Tag die Werkstatt betrat, war die Machina nur noch ein Haufen Trümmer. Die Prismen zu kleinen Tränen zerschlagen, die Arme gebrochen, der Körper ausgeweidet. In einer Ecke sah Leonardo einen Haufen Asche. Von Giacomo keine Spur.
Leonardo nickte sich selber zu. Es war besser so. Denn wer die Geister des Wissens rief, der wurde sie manchmal nicht wieder los. Der Junge war ihm sowieso allmählich über den Kopf gewachsen. Mailand war für sie beide zu klein geworden. Dazu noch die Nachstellungen des französischen Königs Louis XII. Wer könnte schon mit Bestimmtheit sagen, wo das alles hingeführt hätte? Leonardo ließ ein letztes Mal den Blick über die Verwüstung schweifen, dann verließ er die Werkstatt.
Drei Wochen später machte sich der große Meister und Denker auf den Weg nach Venedig. Doch die Bilder der Machina seines Meisterschülers Giacomo Fontanelli hallten noch lange in ihm nach, rollten wie die mächtigen Wellen einer unruhigen See durch sein Denken und raubten ihm den Schlaf.
Er hatte die Zukunft erblickt. Waren er und seine Erfindungen ein Teil dieser Zukunft?
Venedig, Anno Domini 1505, »Und ich baue sie doch …«
1
Der Duft erlesener Speisen lag in der Luft. Bratenstücke lagen auf Platten, die Krusten noch brutzelnd. Große Laibe Brot und Käse, Früchte und roter Wein rundeten die Tafel ab. Der Unterhändler des Condottiere Sigismondo Mussato, Bartolomeo di Cesare, schnitt sich eine großzügige Scheibe Fleisch ab und rieb sie an einem Brocken Salz, bevor er eine Prise frisch gemahlenen Pfeffers hinzufügte. Er griff nach einem Laib Brot, riss einen faustgroßen Brocken
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