Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)
nach dem Krieg schon einmal einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten – das ist zwar lange her: Wilhelm Hoegner, 1954–1957. In Baden-Württemberg hat die SPD das nie geschafft. Warum sind die Schwaben so resistent gegen sozialdemokratische Ideen?
Das hat mit der schwäbischen Sozialstruktur zu tun. Die meisten Menschen, die hier Arbeiter waren, waren nicht in Großbetrieben angestellt. Sondern meistens in kleinen, mittelständischen Betrieben. Und was man gar nicht im Kopf hat: Ein schwäbischer Unternehmer hat mit seinen schwäbischen Arbeitern Dialekt geredet! Da entstehen Verbindungen! Der Klassenkampf war in Württemberg nie populär.
Das heißt, die Schwaben haben ein falsches Bewusstsein gehabt?
Ich habe 1961 im Nordschwarzwald zweimal kandidiert. Im Wahlkreis Calw, Freudenstadt, Horb. Jeden Morgen sind da Tausende von Arbeitern Richtung Sindelfingen und Böblingen zum Daimler gefahren. Damals galt der nette Spruch: Wenn sie beim Daimler waren, haben sie geredet als wären sie Kommunisten. Auf der Heimfahrt waren sie brave Sozialdemokraten. Und wenn sie zu Hause ankamen, haben sie CDU gewählt. Da steckte ein Stückchen Wahrheit drin.
Warum ist es der SPD nie gelungen, dieses Bewusstsein zu überwinden?
Das kann natürlich schon am Pietismus liegen. Gerade im Nordschwarzwald – in Calw, Freudenstadt und in den Dörfern in der Sulzer Ecke – ist er ja noch heute ziemlich stark.
Heißt das: Diese Sozialrevolutionäre, die die Pietisten ja ursprünglich waren, dulden keine zweiten Sozialrevolutionäre an ihrer Seite?
Heute sind die Pietisten alles andere als Sozialrevolutionäre.
Aber früher waren sie das.
Der heutige Pietismus – verglichen mit dem vor 200 oder 250 Jahren – ist ja absolut konservativ, um nicht zu sagen reaktionär. Als ich begann, mich politisch zu engagieren, hatte der Pietismus eine ganz stark antikatholische Neigung. Die Heinemann-Partei hatte bei der Landtagswahl im Jahr 1956 in Calw und Freudenstadt weit über zehn Prozent der Stimmen geholt! Es gab sogar Gemeinden, wo sie die absolute Mehrheit hatte! Das ging auf ein Missverständnis zurück: Die Pietisten wollten nicht CDU wählen, weil der Adenauer Katholik war! Und sie wollten auch nicht die Sozialdemokraten wählen, weil die ihnen zu weltlich waren! Der Heinemann aber war ein gestandener evangelischer Christ – den haben sie dann gewählt. Mit Politik hatte das fast nichts zu tun.
Gibt es ein erzkonservatives, schwäbisches Element, an dem sich die Sozis die Köpfe einrennen? Pietisten und Sozialdemokraten haben doch ähnliche Ideale!
Das stimmt. Es gab sogar einmal einen Pietisten, der Sozialdemokrat war – der berühmte Blumhardt.
… im 19. Jahrhundert …
Der war SPD-Abgeordneter im Landtag. Aber er wurde dann in der Kirche isoliert und auch in seinem Umfeld, das überwiegend pietistisch war. Er wurde sogar als Pfarrer suspendiert, als er sozialdemokratischer Abgeordneter wurde. Er blieb aber die große Ausnahme von der Regel. Ich glaube, dass ein Denken in Sozialstrukturen, überhaupt ein soziologisches Denken, für den Pietismus nicht zugänglich ist. Weil der Pietismus alles auf die individuelle Moral reduziert. Alles, was der Soziologe analysiert, wird vom Pietisten moralisiert.
Jeder kann seinen eigenen Weg zu Gott selber suchen.
Ja. Und da war auch diese Jesus-Erotik. Kennen Sie die Geschichte, die den heutigen Schwaben sehr gut charakterisiert? Ein »Stundenbruder« 4 geht zur Hochzeit eines Freundes und kommt abends sehr beschwingt wieder nach Hause. Auf dem Heimweg trifft er seinen Oberbruder, der immer die »Stunde« hält. Der bemerkt natürlich, dass der Stundenbruder etwas zu viel getrunken hat. In der nächsten Betstunde stellt er ihn zur Rede. Der Angegriffene fasst sich ein Herz und sagt: »Aber unser Herr Jesus ischd doch auch zu Hochzeita g’anga!« – Die Antwort: »Ja, aber des hätt er au besser bleibe lau!« 5 Das heißt: Die Moral wird so stark, dass sie sich gegen den historischen Jesus wendet! Auch die Vorstellung, dass eine soziale Forderung immer aus Neid entsteht, ist eine alte konservative These. Das leuchtet Pietisten gut ein, weil sie eben in moralischen Kategorien denken.
Zurück zur Wahl 1980: Haben Sie damals darüber nachgedacht, was Sie falsch gemacht haben?
Ich habe 1975 ein Buch geschrieben, in dem ich unter anderem die Unterscheidung zwischen »wertkonservativ« und »strukturkonservativ« erfunden habe. Ich habe damals den Wertkonservatismus exemplifiziert
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