Ultimo
solchen Frau sitzen würde und sie ihn auffordern würde, die Augen zu schließen, Julius hätte nur traurig gelacht. Und er wusste nicht, was ihn dazu veranlasste, tatsächlich die Augen zu schließen. Sie musste ihn verhext haben. Er fragte sich, warum sie überhaupt noch redete und warum er ihr nicht einfach mit einem Ruck diesen verlogenen Gürtel herunterriss. Sie drückte ihn beiläufig gegen eines der großen Kissen, und er hörte sie im Raum umhergehen.
„Ich will wissen, was Sie sehen, Julius. Ich habe den Verdacht, dass Sie mehr sehen als andere Menschen.“
„Bis eben habe ich auch jede Menge gesehen, Gnädigste. Aber Sie sind zu faul, sich umzuziehen, daher muss ich wohl die Augen schließen.“
„Schscht!“
Über ihm knarzten die Metallstreben der Kuppel.
„Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen. Im Kunsthistorischen Museum hängt ein Bild, auf dem es eine aufgeregt schnatternde Gans gibt. Sagen Sie mir, wie viele Menschen auf dem Gemälde abgebildet sind.“
Julius öffnete die Augen wieder und sah Luise von Schattenbach verständnislos an.
„Wie bitte?“
„Sie haben meine Frage verstanden, Julius!“
„Ich habe Ihre Worte verstanden, aber nicht den Sinn dahinter.“
Sie setzte sich ans Ende der Recamiere und legte ihre Hand auf sein Knie, als wäre es ein Kissen, das man zufällig berührt.
„Julius!“, sagte sie und ihr Blick wurde bannend. „Sie werden jetzt die Augen schließen und mir meine Frage beantworten.“
„Sonst?“
„Nichts sonst“, sagte sie. Und mit erschreckender Beiläufigkeit schob sie ihre Hand höher und verbreitete eine schreckliche Hitze in den Muskeln seines Schenkels. Ihr kleiner Finger stieß gegen das pochende Fleisch in seiner Hose. Sie betrachtete ihn streng, als wäre er ein ungehorsames Kind, dessen Widerstand so leicht zu brechen war wie ein Streichholz. „Also – wie viele Menschen gibt es auf dem Bild mit der schnatternden Gans, Julius?“
Jetzt stieg er ein in ihr Spiel. Vor seinen geschlossenen Augen tauchte das gewürfelte Feld der Bilder auf. Landschaften und Gesichter zogen an ihm vorbei. Es war still um ihn. So musste es sich anfühlten, wenn man hypnotisiert wurde. Dann sagte er: „Vier. Es sind vier Menschen auf dem Bild.“
Seine Gastgeberin zog überrascht die Luft ein.
„Und … wie viele Ringe trägt Jane Seymour auf dem Porträt von Holbein?“
„Zwei.“
Ihre Finger begannen, sein Bein zu kneten. Julius war kurz davor, sich vollkommen zu entspannen, sich aufzulösen. Warum er sich auf dieses Spiel eingelassen hatte, wusste er nicht. Vielleicht befriedigte es einen niederen, kindischen Trieb, anerkannt zu werden. Bei der häufigsten Besucherin des Museums nachträglich eine Aufnahme- und Tauglichkeitsprüfung abzulegen. Doch vielleicht war es auch die unausgesprochene mögliche Wendung dieser seltsamen Prüfung, die im Raum lag. Vielleicht bildete er sich ein, von ihr eine erlesene Belohnung zu bekommen, wenn er ihre Fragen richtig beantwortete.
„Dann gibt es da noch ein Bild von einem Triumphzug. Was befindet sich im linken Vordergrund des Bildes?“
Seine Antwort kam mit der Heftigkeit eines Niesens, das man nicht unterdrücken kann: „Ein Marmorfragment, ein Fuß … von einer Statue.“
„Und jetzt nennen Sie mir ein Bild, auf dem ein kleiner Hund, ein Springbrunnen und zwei steinerne Delphine zu sehen sind.“
Julius tauchte mit seinem inneren Auge immer tiefer hinab in das Labyrinth exakter Erinnerungen und fand auch diese Antwort. „Ein Bild mit dem Thema Susanna im Bade – der Maler ist Chimenti.“
Nach dieser Antwort herrschte sie ihn plötzlich an: „Genug jetzt!“ Sie stand ruckartig vom Polster auf, und Julius hörte das Rascheln ihres Gewandes. Widerstrebend und enttäuscht öffnete er die Augen, wie nach einem tiefen, traumvollen Schlaf.
Luise von Schattenbach war fort. Julius hörte ihre Schritte irgendwo hinter der Wand. Dann sah er Colette, die ihn an der Schulter fasste und sanft aufrichtete. Wenige Augenblicke später stand er wieder allein auf dem Treppenabsatz, die Tür fiel zu, und unter ihm lag der Abgrund des stillen Hauses. Es war, als hätte Julius die Wohnung hinter der weißen Tür niemals betreten. Als wäre alles, was dahinter geschehen war, nur in seiner Einbildung abgelaufen.
Er stieg die Treppe hinab wie ein abgewiesener Bettler. Benommen und wund trat er den Heimweg an und versuchte, des Ansturms seiner Fragen Herr zu werden. Doch Julius spürte in sich ein saugendes
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