Ulysses Moore 8: Der Herr der Blitze (Staffel 2 Band 2) (German Edition)
dem alten Schrank auf der anderen Seite des Zimmers hinüber und öffnete ihn leise.
Sie unterdrückte einen Hustenanfall und suchte sich bequeme Kleidung heraus: Jeans, ein schwarzes T-Shirt, einen leichten Pullover. Dazu nahm sie noch rot-weiß geringelte Söckchen und ihre Lieblingsballerinas und schlich ins Badezimmer. Dort sah sie als Erstes den Inhalt des Arzneischränkchens durch. Bisher hatten ihre Eltern darauf bestanden, dass sie nur Naturheilmittel einnahm, aber es musste doch etwas im Haus sein, was das Fieber ein für alle Mal vertrieb.
Sie fand das Aspirin. Sie wusste, dass man es nicht auf leeren Magen nehmen durfte. Also holte sie ein paar Tabletten heraus, steckte sie in die Tasche ihrer Jeans und verließ auf Socken und mit den Schuhen in der Hand das Badezimmer.
Die Familienporträts über der Treppe starrten sie schweigend an. Mit jeder Stufe, die sie auf der Treppe hinunterstieg, wurden ihre Zehen kälter. Im Treppenhaus gab es ständig einen kühlen Luftzug, der von dem Turmzimmer oben bis hinunter ins Steinerne Zimmer im Erdgeschoss strömte.
Sie ging durch den Flur, und ihr war, als würden die alten Möbel und die unzähligen Kunstgegenstände und anderen Reiseandenken darin leise atmen.
In der Küche war es ganz still. Julia öffnete den Kühlschrank, überlegte kurz und nahm eine Packung Schinken heraus. Dann schnitt sie sich ein paar Scheiben Brot ab, setzte Wasser auf und fing an zu essen.
Im Nebenzimmer erhob sich ein Mann aus einem Sessel. Julia warf ihm einen Blick zu, ohne ihr Frühstück zu unterbrechen. »Guten Morgen, Nestor, hast du Sehnsucht gehabt?«, fragte sie und schluckte einen Bissen hinunter, ohne feststellen zu können, wonach er eigentlich schmeckte.
Der alte Gärtner zeigte auf den Sessel im Esszimmer mit dem geblümten Bezug und den ausladenden Armlehnen. »Darin habe ich einen Teil meines Lebens verbracht, Julia.«
Der Teekessel pfiff.
»Dann hol ihn dir doch rüber ins Gärtnerhaus. Ich glaube nicht, dass Mama etwas dagegen haben wird.«
»Ich habe in diesem Sessel und in diesem Zimmer einen Teil meines Lebens verbracht. Man kann die Dinge nicht so leicht ändern.«
»Und du hasst es, wenn sich Dinge ändern, nicht wahr?« Julia musste lachen. Wie oft hatte ihre Mutter in den ersten Wochen nach dem Einzug versucht, die Möbel und andere Gegenstände im Haus umzustellen. Morgens hatte sie dann immer feststellen müssen, dass diese über Nacht stets an ihre alten Plätze zurückgekehrt waren. Gleichzeitig waren die Möbel, die die Covenants aus London mitgebracht hatten, auf mysteriöse Weise kaputtgegangen. Der Architekt, der ihnen beim Einrichten der alten Villa hatte helfen sollen, war nach ein paar gescheiterten Versuchen abgereist, und alles war so geblieben, wie es gewesen war.
Julias Vater war zu dem Schluss gekommen, dass übernatürliche Kräfte am Werk seien. »In diesem Haus gibt es Gespenster. Deswegen war es so billig«, war sein Fazit.
In Wirklichkeit aber hatten nicht Geister die Möbel der Villa Argo umgestellt, sondern der jetzige Gärtner und ehemalige Besitzer. Jede Nacht hatte er sich ins Haus geschlichen und dort seine schlaflosen Stunden inmitten seiner alten Sachen und Erinnerungen verbracht.
»Eine Tasse Tee?«, fragte Julia.
»Warum nicht?«
Julia stellte eine angeschlagene Tasse vor Nestor, deren Dekor schon ganz verblasst war. Es war die Tasse, aus der er schon seit seiner Kindheit trank.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte sie.
»Alte Leute brauchen nicht mehr viel Schlaf«, erwiderte er. »Außerdem haben sie zu viele Sorgen, um ruhig schlafen zu können.«
»Macht dir ihre Reise Sorgen?«
»Ja. Die Sache gefällt mir ganz und gar nicht. Und zwar vor allem deswegen, weil wir nicht mitbekommen, was passiert.«
»Dagegen könnte man etwas tun«, erwiderte Julia. »Ich hatte vorhin eine Idee.«
»Eine Idee?«
»Ja, genau. Das Notizbuch von Morice Moreau ist ein Fensterbuch, richtig? Ein Buch, über das man mit jemandem in Kontakt treten kann.«
»Richtig«, bestätigte Nestor.
»Und du hast gesagt, dass es in der Bibliothek der Villa Argo auch ein Exemplar gab?«
»Ja, aber ich weiß nicht, wo es abgeblieben ist.« Nestor seufzte. »Doch ich glaube, ich weiß jetzt, woran du gedacht hast.«
»Wenn wir das Notizbuch irgendwo finden sollten, können wir mit den dreien sprechen, sobald sie ihr Buch aufschlagen.«
Nestor nickte. »Ja, das ist eine gute Idee.«
Trotz ihrer Kopfschmerzen lächelte Julia.
Der Gärtner
Weitere Kostenlose Bücher