Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
aber auch gesagt, dass es gar nicht sein richtiges Haus war.«
»Es macht keinen großen Unterschied, ob es wirklich sein Haus war oder nicht«, erklärte ihre Mutter, »wichtig ist nur, was man selbst bei seinem Anblick denkt und empfindet.«
»Tommi sagt …«
»Tommi sagt ganz schön viel«, fiel ihre Mutter ihr lachend ins Wort. Anita musste ebenfalls lachen. Dann schwiegen beide eine Weile.
»Hatte er wirklich einen Affen?«
»Anita … schlaf jetzt endlich.«
»Stimmt es nun oder nicht?«
»Ja, es stimmt. Er brachte den Affen von einer Reise nach Afrika mit. Ich glaube, das Tier stammte eigentlich aus Gibraltar.«
»Er ist in Afrika gewesen?«
»Und auch auf anderen Erdteilen. Er war ein großer Reisender.«
»Und hat er wirklich alle Orte gemalt, an denen er gewesen ist?«
»Ja, so ungefähr«, sagte ihre Mutter und gähnte. »Aber im Grunde hat er das gemalt, was ihm gerade einfiel, egal, ob er es mit eigenen Augen gesehen hatte oder nicht.«
»Aber du weißt, ob er dort gewesen ist?«
»Vielleicht finde ich eine Antwort darauf, wenn ich alle Fresken wieder zum Vorschein gebracht habe. Und jetzt gute Nacht!«
Eine Weile herrschte Stille.
Dann: »Mama?«
»Was?«
»Zeigst du mir morgen, wo der Affe ist?«
»Anita!«
»Du hast gesagt, er hätte ihn gemalt. Zeigst du mir die Stelle im Haus?«
»Anita, es ist schon fast Mitternacht. Morgen früh musst du in die Schule gehen und …«
»Ich will nur einmal kurz das Gesicht von diesem Affen sehen!«
»Das kannst du nicht. Das Fresko ist sehr dicht unter der Decke. Das Gerüst verdeckt es halb.«
»Ich klettere mit dir rauf.«
»Dein Vater …«
»Ach, Mama!«
»Na schön, wenn dir so viel daran liegt …«
»Versprochen?«
»Ja, versprochen.«
Der folgende Vormittag verging wie im Fluge.
Erwartungsvoll kehrte Anita von der Schule zurück. Zu Hause fand sie ein Mittagessen zum Aufwärmen vor sowie eine lange Liste mit Anweisungen ihrer Mutter, die sie nicht weiter beachtete.
Um keine Zeit zu verlieren, schlang sie die Nudeln kalt hinunter. Nach einem raschen Blick in ihr Aufgabenheft warf sie die Bücher und Hefte, die sie brauchen würde, in den Rucksack.
»Bist du fertig? Können wir gehen?«, fragte sie Mioli, der oben auf dem Kühlschrank hockte und sie aufmerksam beobachtete.
Behutsam hob sie den Kater herunter und ließ ihn in die Tasche ihres Anoraks gleiten. Er strampelte eine Weile herum, bis er eine bequeme Position gefunden hatte. Dann steckte er seine Vorderpfoten und das weiße Gesicht aus der Tasche.
»Na, können wir jetzt endlich los!«
Anita ging aus dem Haus und erreichte über eine kleine Brücke die Gasse am Canal di Borgo. An einem sonnigen Nachmittag wie diesem, wenn die kleine Straße voller Leute war und die Kähne des schwimmenden Marktes mit dem frischen Gemüse von der Insel Giudecca im Kanal schaukelten, wirkte die Ca’ degli Sgorbi geradezu einladend. Ihre Mutter hatte sämtliche Fensterläden weit geöffnet, sodass das Treppenhaus in warmes Licht getaucht war.
Anita ging als Erstes in den Garten und stellte ihren Rucksack zu Füßen des Tischs auf dem Rasen ab.
Wie auf Kommando sprang Mioli aus ihrer Tasche.
»Aber benimm dich heute!«, ermahnte Anita den kleinen Kater. »Hast du verstanden? Ich habe keine Lust, dich schon wieder überall zu suchen.«
Der Kater sah kurz auf und begann, sich zu putzen. Anita seufzte, ging zurück ins Haus und lief die Treppe nach oben.
»Ciao!«, rief sie ihrer Mutter zu, die auf dem Gerüst stand und die Deckenbalken mit einer Schutzfolie beklebte.
»Ciao«, grüßte sie zurück.
Dann zeigte sie zu einem der Metallpfosten, die das Gerüst stützten. »Siehst du den da? Du kannst an ihm zu mir heraufklettern. Aber sei vorsichtig!«
Anita stieg, ohne zu zögern, die Sprossen zu ihrer Mutter hinauf.
»Langsam!« Mrs Bloom reichte ihrer Tochter die Hand. »Und jetzt komm mit. Wenn dir schwindlig wird, musst du auf allen vieren weitergehen.«
»Okay.«
»Und pass auf, nicht den Eimer mit dem Farbauffrischer umstoßen!«
Anita konnte es vor Ungeduld kaum noch aushalten und musste sich zusammenreißen, sich nicht allzu hastig auf dem schmalen Balken zu bewegen. »Wo ist es denn?«, fragte sie gespannt.
Vorsichtig balancierte ihre Mutter bis zum hinteren Ende des Gerüsts, immer an der Seitenwand des Salons entlang. »Genau hier«, sagt sie schließlich und bückte sich nach einer Taschenlampe.
Sie richtete den hellen Strahl auf das Bild eines Affen mit
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