Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
sich mit der Hand am Geländer ab und stellte sich auf die erste Stufe.
Ihr Herz begann heftig zu schlagen und pochte als dumpfer Puls in ihren Ohren. Sie schlich in der Dunkelheit vorsichtig die Stufen hinauf, ohne das Geländer loszulassen. Als sie fast den Absatz in der Mitte der Treppe erreicht hatte, hörte sie das Maunzen zum dritten Mal. Anita wollte nach Mioli rufen, brachte aber keinen Ton heraus.
Unter der Tür zum Atelier drang ein schwacher Lichtschein hervor. Es waren die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die noch von den höchsten Fenstern des Hauses eingefangen wurden.
Der Kater musste hinter der Tür zum Atelier sein. Anita hörte, wie er von innen an dem Holz kratzte.
In dem schwindenden Licht sah sie schnell die Schlüssel in ihrer Hand durch. Ihr Herzschlag dröhnte in ihrem Kopf. Was, wenn gar nicht ihr Kater auf der anderen Seite auf sie wartete?
Sie sog tief die Luft ein. »Mioli, bist du das? Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich hol dich da raus. Ich muss nur noch den richtigen Schlüssel finden, dann können wir nach Hause gehen.«
Nach Hause, dachte sie, wenn sie doch nur schon dort wäre!
Sie steckte einen Schlüssel ins Schloss, aber er ließ sich nicht drehen. Hektisch probierte Anita einen Schlüssel nach dem anderen aus. »Verflixt!«, rief sie und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Der Schlag hallte lautstark im ganzen Haus wider.
Inzwischen war die Sonne untergegangen. Durch den Spalt unter der Tür drang kein Licht mehr ins Treppenhaus.
Anitas Sinne waren zum Zerreißen gespannt, da meinte sie plötzlich, Schritte zu hören.
Kalter Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, sie sank auf die Knie und nahm aus den Augenwinkeln plötzlich einen Schatten wahr, der die Treppe heraufkam.
»Anita! Was ist los? Ist dir was passiert?«, rief ihr eine wohlvertraute Stimme zu.
Tommi, dachte Anita erleichtert. »Was machst du denn hier?«, fragte sie atemlos.
»Du hast so lange gebraucht. Deshalb wollte ich mal nachschauen, wo du bleibst.«
»Er ist hier hinter der Tür.«
»Wer ist hinter der Tür?«
»Mioli. Ich habe ihn maunzen hören.«
Tommaso seufzte. »Na, dann holen wir ihn mal da raus. Und zwar schnell. Man sieht ja schon gar nichts mehr.«
»Die Tür ist abgesperrt.« Anita reichte ihm den Schlüsselbund.
Tommaso nahm seine Taschenlampe aus der Hose und hatte in kürzester Zeit den richtigen Schlüssel gefunden. Er öffnete die Tür gerade so weit, dass der Kater zu ihnen herausspringen konnte.
»Da bist du ja endlich!«, flüsterte Anita erleichtert. Schutz suchend schmiegte sich Mioli an sie.
Ohne in den Raum zu blicken, schloss Tommaso die Tür wieder und ließ das Vorhängeschloss zuschnappen.
Wenige Augenblicke später waren sie draußen in der kühlen Abendluft und liefen am Kanal entlang nach Hause.
Kapitel 3
Der französische Maler
»Wie war er eigentlich so?«, fragte Anita später an diesem Abend.
Sie und ihre Mutter schliefen im selben Zimmer, in einem riesigen Bett aus drei übereinandergestapelten Matratzen.
»Wie war wer?«, fragte ihre Mutter zurück und sah geistesabwesend von ihrem Buch auf.
Anita rollte sich auf den Bauch, legte das Kinn auf ihre Hände und sah ihre Mutter forschend an.
Diese steckte sorgfältig ein Lesezeichen zwischen die Seiten und legte ihre Lektüre auf den Nachttisch. »Wie war wer?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Der französische Maler.«
»Morice Moreau?«
»Ja, genau der. Was für ein Mensch war er?«
Anitas Mutter knipste ihre Nachttischlampe aus. Mit einem Schlag wurde das Zimmer in Dunkelheit getaucht.
Doch schon nach einigen Sekunden hatten sich Anitas Augen daran gewöhnt, und sie konnte im hereinfallenden Licht der Straßenlaterne wieder die Umrisse der Gegenstände im Raum erkennen.
»Er war ein sehr unabhängiger Mensch, mit äußerst originellen Ideen«, antwortete Mrs Bloom und zog sich die Daunendecke bis zum Kinn hoch. »Er illustrierte Kinderbücher.«
»Tatsächlich? Was für Bücher denn?«
»Vor allem Romane, in denen es um Reisen ging. Bücher wie
Gullivers Reisen.
Kennst du die Geschichten?«
»Die, in denen es die Insel Liliput und die Insel der Riesen gibt?«
»Ja, genau. Und das Buch von Marco Polo hat er ebenfalls illustriert.«
»Das war doch der venezianische Reisende, der in China war, oder?«
»Richtig«, bestätigte ihre Mutter.
»Tommi hat mir mal Marco Polos angebliches Haus hier in Venedig gezeigt«, erzählte Anita und klopfte sich ihr Kissen zurecht. »Er hat mir
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