Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
er eine eigenartige Unruhe. Er wusste, dass Anita gerade nach ihrem Vater und den anderen suchte. Und ihm war klar, dass er nicht einfach alles ihr überlassen konnte. Tommaso, Nestor, Black Vulcano und Mr Bloom – sie alle benötigten ihre Hilfe.
Andererseits waren ja aber auch noch Rick und Julia da, die sich um sie kümmern konnten.
Vielleicht gab es etwas, das im Moment ebenso wich tig war. Ein weiteres Rätsel, das dringend gelöst werden müsste.
Was weiß Bowen, was wir nicht wissen?
Jason seufzte. Sein Pflichtgefühl meldete sich. Seine Hände packten die Griffe des Lenkers fester. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken.
Antworten. Er brauchte Antworten.
»Agarthi – Antworten finden.«
Er startete den Motor und fuhr zur Küstenstraße. In wenigen Minuten würde er Rick das Motorrad überge ben und zu Anita gehen, um ihr bei der Suche zu helfen.
Oder vielleicht doch nicht?
Schließlich würde er nur ein paar Minuten lang weg sein. Eine halbe Stunde vielleicht.
Jasons Herz schlug schneller. Das war immer so, wenn er etwas vorhatte, von dem er von vornherein wusste, dass es falsch war.
In der Nähe der Hummingbird Alley hielt er an und wendete das Motorrad.
Jason kletterte von dem Motorrad herunter, nahm den Helm ab und übergab ihn Rick. Julia reichte er den Helm, den Anita aufgehabt hatte. Er half seiner Schwester auf den Beifahrersitz und hielt Nestors Tasche, während Rick auf das Motorrad stieg.
Die folgenden Dinge tat er automatisch, beinahe ohne darüber nachzudenken. Dem Meer zugewandt, steckte er rasch eine Hand in die Tasche. Als Erstes fand er die Schachtel mit den Schlüsseln. Er öffnete sie, ohne sie herauszunehmen, wählte einen Schlüssel aus, den er an seinem Griff erkannte, und schloss die Schachtel schnell wieder. Dann ertasteten seine Finger den anderen Gegenstand, den er sich ausleihen wollte: Er war so kalt wie Schnee.
»Jason? Wir fahren jetzt los.«
Schnell drehte er sich um. Er tat so, als stolpere er, während er die Muschel unter seinem T-Shirt und den Schlüssel in der Hosentasche versteckte.
Gerade wollte er Julia die Tasche reichen, als er eine Idee hatte. Während er auf das Motorrad zuging, nahm er noch etwas heraus. Etwas, das sehr klein und kostbar war.
Wenn sie merken, dass das hier weg ist, werden sie richtig wütend werden, dachte er dabei. Er hatte Moreaus Notizbuch an sich genommen.
»Dann bis später«, sagte Jason, als er seiner Schwester die Tasche umhängte. Offenbar hatten die beiden nichts bemerkt.
Rick drehte sich nach ihm um. »Der Erste, der etwas entdeckt, gibt den anderen Bescheid.«
»Abgemacht«, erwiderte Jason und biss sich auf die Unterlippe.
Er sah den beiden nach und winkte ihnen noch einmal zu. Sie wirkten viel zu klein für die alte Augusta. Julia hatte besorgt ausgesehen, aber Jason wusste, dass sie bei Rick gut aufgehoben war. Rick war immer sehr besonnen und handelte überlegt.
Als das Motorrad hinter der Kurve verschwunden war, fühlte er sich plötzlich sehr einsam.
In diesem Moment kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Ein Windstoß wehte ihm den Geruch von frisch gebackenem Brot in die Nase und er hörte eine Stimme rufen: »Brot und Kuchen für alle! Brot und Kuchen für alle!«
Ihm fiel ein, dass es in dem Gebäude der Konditorei Chubber eine Tür zur Zeit gab. Folglich wussten mögli cherweise auch die Besitzer Bescheid. Vielleicht waren sogar sämtliche Bewohner von Kilmore Cove über die Türen informiert, genauso wie Bowen.
Die plötzliche Erkenntnis, dass dies durchaus möglich sein konnte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
Antworten. Er brauchte Antworten.
Er öffnete seinen Rucksack und legte alles hinein, was er heimlich an sich genommen hatte. Anstatt anschlie ßend ins Zentrum von Kilmore Cove zu laufen, ging er in Richtung Turtle Park.
»Tut mir leid, Freunde«, sagte er dabei leise.
Kapitel 20
Der Verrat
Anita trat aus der Kirche ins Freie und merkte, dass sich die Wand aus drohend dunkelvioletten Wolken auf Kil more Cove zubewegte. Die blendenden Strahlen der Sonne schienen allmählich den Kampf gegen die schwar zen Wolken zu verlieren.
Dann sah sie sich gründlich um, doch sie konnte Jason nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie sich allzu sehr beeilt und er war erst gerade eben von Dr. Bowens Haus weggegangen.
Inzwischen suchten viele nach dem Arzt, aber keiner wusste, wo er sich befand. Die Verletzten wurden von Dr. Pinklewire, der
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