Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
»Was redest du da? Wir waren doch erst gestern hier! Wieso weißt du das nicht mehr?«
Der dicke Junge zwinkerte verblüfft. »Das ist nicht wahr!«
»Dein Cousin ist gestern von hier aus zum Meer hinuntergegangen und hat das Boot geklaut«, schrie ihn der kleine Flint entnervt an. »Und du selbst hast dich ins Gärt nerhaus geschlichen, um einen Schlüssel zu klauen.«
Der mittlere Flint kratzte sich am Kopf. »Ja, aber das war in der
Nacht
«, protestierte er. »Woher soll ich wissen, dass es dieses Haus war?«
»Was glaubst du, wie viele Villen wie diese gibt es wohl in Kilmore Cove?«
Ohne auf die Antwort seines übergewichtigen Cousins zu warten, schritt der kleine Flint mit neu gewonnenem Schwung durch das Gartentor. Sobald er sich im Garten wiederfand, bremste er und ging dazu über, sich wesentlich vorsichtiger zu bewegen. Hier lag irgendetwas in der Luft, etwas, das ihn wachsam werden ließ. Ohne eigentlich sagen zu können, warum, fühlte er sich beobachtet.
Er sah sich um, sah nach oben, dann nach beiden Seiten … und war sich beinahe sicher, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Als hätte sich ein mit einem langen Stock bewaffneter Mensch von einem Strauch hinter den nächsten geschlichen. Doch als er zu den Sträuchern ging, um nachzusehen, fand er dort nur den Stamm eines hohen Baumes und tief herabhängende, im Wind schaukelnde Zweige.
Der kleine Flint ließ seinen Blick zum Dach des alten Hauses und schließlich zu dem Türmchen wandern. Von dem Haus ging etwas Bedrohliches aus, als wäre es ein verletztes Tier, das bereit war, sich mit Krallen und Zähnen zu verteidigen.
Ein Fensterladen schlug krachend gegen eine Wand. Der Himmel verdunkelte sich zu einem schieferfarbenen Grau.
Der kleine Flint spürte, wie ihm ein Schauer den Rücken entlangkroch. Er versuchte, sich im Park zu orientieren. Seine Cousins standen ein ganzes Stück von ihm entfernt auf der anderen Seite des Hauses. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er im Zickzack um die alte Villa herumgelaufen war.
Eigenartig, dass er das vorhin gar nicht gemerkt hatte. Es kam ihm vor, als hätten sich die Gartenpfade bewegt, während er auf ihnen gelaufen war, um ihn möglichst weit von der Haustür abzudrängen.
Plötzlich fand er sich an einer sehr dunkel überschatteten Stelle wieder, neben einem von Efeu überwucherten Gartenhäuschen.
Er schaute durch das Fenster hinein und sah ein Durch einander aus Rechen, Besen, Spaten und Schaufeln sowie einen Benzinkanister. Aber es war kein Mensch darin. Von hier aus konnte ihn niemand beobachtet haben. Dann hörte er hinter sich einen Zweig knacken und Blätter rascheln … Wieder drehte er sich um, weil er meinte, etwas gesehen zu haben.
Und zwar dasselbe wie vorhin: einen dunklen Stock (oder war es ein zusammengerollter Schirm gewesen?), der schnell wieder zwischen den Pflanzen verschwunden war.
Kurz darauf kam hinter dem Haus tatsächlich jemand hervor, ein Mann in einem zerrissenen schwarzen Anzug: Es war einer der Schere-Brüder.
Der kleine Flint hob grüßend eine Hand. Hatte er tatsächlich nur ihn gesehen?
Der blonde Schere-Bruder erwiderte den Gruß und sagte dann zu jemandem, den der kleine Flint nicht sehen konnte: »Die Jungen sind da.«
Das Türmchen der Villa Argo warf einen langen Schatten auf die Veranda vor der Küche, der wie der Schattenstrich auf einer Sonnenuhr auf das Gartentor zeigte, als wolle er darauf hinweisen, dass dies der einzige Ausgang war. Von hier aus wirkten die Bucht und Kilmore Cove sehr weit weg und beinahe unwirklich.
Dr. Bowen versuchte gerade, in Nestors Haus einzudringen, während Marius »Malarius« Voynich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen die Villa bewunderte.
Als die drei Flints dazukamen, rief Dr. Bowen erfreut: »Ach, gut! Unsere Arbeitskräfte. Also los, fangen wir an, ohne lange herumzutrödeln.«
»Und womit sollen wir anfangen?«, fragte der große Flint.
»Tja«, brummelte der Doktor, bevor er Nestors Haustür einen heftigen, aber wirkungslosen Fußtritt versetzte. »Was schlagen Sie vor, Doktor Voynich, womit fangen wir an?«
Voynich drehte sich nach ihm um und hob eine Augenbraue. Dann wandte er ihm wieder den Rücken zu und versank abermals in seine Betrachtung der Villa.
Der kleine Flint zuckte mit den Schultern und wollte auf das Haus zugehen, aber irgendetwas hinderte ihn daran, seinen Weg fortzusetzen. Etwas nicht Greifbares, etwas, das sich in den Schatten hinter den Fenstern verbarg.
Lange starrte er die
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