Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
Mit weißer Kreide geschriebene Inschriften in einer unbekannten Sprache.
Vielleicht war die Schlucht so etwas wie ein Wallfahrtsort, eine heilige Stätte.
Inzwischen hatte die Luftfeuchtigkeit seine Kleider klamm werden lassen. Seine Finger zitterten, auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß. Je weiter er kam, desto dünner wurde die Luft, und allmählich bekam er das Gefühl, nicht genügend Sauerstoff zur Verfügung zu haben. Anstatt zu gehen, schleifte er seine Füße über den Boden. Wenn er sich bemühte, einen richtigen Schritt zustande zu bringen, wurde ihm sofort schwindelig.
Nachdem er in der Schlucht gut dreihundert Schritte zurückgelegt hatte, bemerkte Jason an den Felswänden weiße Reflexe. Er begriff zunächst nicht, was das war, bis er plötzlich vor einem Gletscher, einem wahren Amphitheater aus Eis, stand. Ein riesiges, weißes, durchscheinendes Oval, dessen eisige Wände im Sonnenlicht so stark glänzten, dass dem Jungen nach der Dunkelheit der Schlucht die Augen brannten.
Der Weg endete hier, es ging nicht mehr weiter.
An den Seiten schmolz das riesige Eisgebilde und viele kleine Rinnsale liefen an den Wänden hinunter und in den Bach hinein. Einige Wege führten auf das Eis und auf die umgebenden Schneefelder, hörten aber alle irgendwo auf. Das Ganze bot einen Anblick, der gleichzeitig erhaben und furchterregend war.
Bei Jasons Versuch, an einer eisigen Seitenwand hinaufzuklettern, löste sich ein Eisbrocken, und das Rumpeln, mit dem dieser an der Wand hinunter und schließlich am Boden entlangkullerte, wurde von dem trichterförmigen Eisgebilde unendlich oft wiedergegeben.
»Hey!«, rief Jason.
Und hörte sofort das Echo der eigenen Stimme: »Hey! Hey! Hey! Hey!«, bis es endlich immer leiser wurde und verstummte.
»Ist hier jemand?«, rief Jason und das Echo wiederholte seine Frage. »Hört ihr mich? Ich suche euch!«
»Hört … hört … ihr … ihr … euch …«
Jason versuchte es noch ein paar Male. Dann ließ er sich auf einen der Steine sinken, die aus dem gefrorenen Schnee herausragten. Aufmerksam betrachtete er die Spalten im Eis. Manche davon waren so breit, dass eine Lokomotive hindurchgepasst hätte.
Er entdeckte Spuren von anderen Menschen, die versucht hatten, das Eis zu erklimmen. Zurückgelassene Haken und Seile. Kratzer und Kerben von Meißeln. In das Eis gehauene Stufen.
Lag dort drüben etwa die gefrorene Leiche eines Bergsteigers? Jason schüttelte den Kopf, und als er wieder hinsah, war das Bild verschwunden.
Er sah eine Reihe gleich großer Löcher. Vielleicht waren das Stufen oder Gänge. Wie viele mochten bei dem Versuch, diesen Gletscher zu überwinden, den Verstand verloren haben? Möglicherweise hatten es ja sogar die Freunde des Großen Sommers probiert. Was hatte Ulysses Moore in seinen Tagebüchern darüber geschrieben? »Eine wahre Hölle, die aus nichts anderem besteht als aus Kälte. Einer Kälte, die einem das Gesicht zerschneidet.«
Jason strich mit der Hand über seine Wange und merkte, dass er die Berührung beinahe nicht mehr spürte.
Sollte er umkehren? Vielleicht war dies nicht der rich tige Weg. Vielleicht war es nur eine Falle gewesen, eine weitere Täuschung von Dr. Bowen.
Weil ihn dieser Gedanke an etwas erinnerte, holte er die Schneemuschel aus dem Rucksack, die Julia und Rick im Keller der Bowens gefunden hatten. Er hielt sie am aus gestreckten Arm und sah sie sich lange an. Von ihrer Form her erinnerte sie an ein Füllhorn. Eine Schnecke aus wei ßem Perlmutt. Sie verlockte ihn dazu hineinzublasen.
Das ist doch verrückt, dachte er, während er sie auf seine Lippen zubewegte. Seine Finger waren so kalt, dass er sie kaum noch beugen konnte.
Aber probieren kostet nichts.
Er blies hinein.
Aus der Muschel kam ein schwaches Zischen, das jedoch vom Echo aufgefangen und verstärkt und so zu einem Klagelaut, schließlich sogar zu einem weit hörbaren Ruf wurde. Das Echo fügte eigene Töne hinzu, unterschiedliche, einander abwechselnde Töne.
Jason machte eine Pause, um Atem zu schöpfen. Das nächste Mal blies er stärker in die Muschel hinein, wäh rend die andere, alte Melodie noch nachhallte. Einen Augenblick lang schien es, als sei auf dem Gletscher ein Orchester von Blasinstrumenten zusammengetreten.
Nachdem er die wenige Luft, die in seiner Lunge gewe sen war, in die Muschel hineingeblasen hatte, lauschte er noch lange dem Konzert des Echos, bis der Wind die letz ten Klänge davongetragen hatte.
Als es wieder ganz still
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