Ulysses Moore – Die steinernen Wächter
was Fred Halbwach gerade machte.
Der war immer noch im Nebenraum und hatte den Kopf in ein großes Loch in der Wand gesteckt. Als er sie kommen hörte, zog er ihn wieder heraus, schien über ihre Anwesenheit jedoch nicht allzu erfreut zu sein.
»Ach, ihr seid das, Kinder. Entschuldigt bitte, aber ... ich glaube, es gibt ein paar Probleme.«
»Was machst du da?«, fragte Rick neugierig.
Das Loch, sahen sie jetzt, war kein einfaches Loch, sondern offensichtlich das Innere eines Schaltkastens, voll von Rohren und Schläuchen und roten und blauen Knöpfen oder Ventilen.
Sie schienen in der Kommandozentrale des Bahnhofs gelandet zu sein. Eine riesige schwarze Eisenplatte nahm den größten Teil des Raumes ein. Auf ihr verliefen Rillen, die die Gleise darstellten. Neben einem Hauptgleis gab es weitere in beide Richtungen. Alle waren mit Ziffern gekennzeichnet. An den Punkten, an denen sie aufeinandertrafen, waren Weichen eingesetzt, die man mittels eines kleinen roten Hebels bewegen konnte. Möglicherweise konnten von hier aus alle Weichen der Gegend bedient werden.
»Zum Glück sind es nicht allzu viele«, meinte Jason kopfschüttelnd. Es kam ihm komisch vor, dass ein so unbedeutender Ort wie Kilmore Cove ein Eisenbahnknotenpunkt gewesen sein sollte. Er fand die riesige Anzeigetafel in der Bahnhofshalle und das dicke Kursbuch viel zu groß für diese kleine Stadt.
Fred Halbwach wandte sich zu den dreien um und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Da hast du nicht ganz unrecht.«
»Aber was genau machst du hier?«, fragte Julia hartnäckig.
Fred zeigte auf die Rohre und Leitungen und antwortete ruhig: »Ich drehe an den Ventilen.«
»Und wozu?«
»Weil einer es machen muss und dieser eine bin ich.«
Julia, Rick und Jason wechselten erstaunte Blicke. »Aber warum muss denn an all diesen Ventilen gedreht werden?«
Fred kratzte sich hinter dem Ohr. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich weiß nur, dass ich zweimal die Woche herkommen muss, um an allen zu drehen. Die roten muss ich schließen und die blauen öffnen.«
»Die Rohre sehen aus wie Wasserrohre«, vermutete Rick. Er ging näher heran und lauschte an einem von ihnen. »Ja, ich glaube wirklich, es sind Wasserrohre.«
Julia schien noch fassungsloser als die beiden anderen zu sein. »Du kommst also zweimal in der Woche her, um an den Ventilen zu drehen ... Und dann gehst du wieder.«
»Das ist meine Arbeit.«
»Aber du weißt nicht, warum du das machst.«
»Na ja, ich glaube, dass es der Hälfte der arbeitenden Menschheit damit genauso geht wie mir.«
»Entschuldige bitte, wenn ich dir auf die Nerven gehen sollte, aber wer hat dir denn eigentlich diese Arbeit aufgetragen?«
Fred seufzte. »Ach, das war der alte Black, kurz bevor er abgereist ist.«
Jason, Julia und Rick zuckten zusammen. »Du kanntest Black?«
»Sicher.«
»Hat er dir denn auch gesagt, wo er hinwollte?«
Fred überlegte. »Hm, um ehrlich zu sein ... vielleicht ja, aber ich weiß es nicht mehr genau.«
»Bitte?«
Fred war seine Erinnerungslücke selber peinlich. Verlegen scharrte er mit den Füßen. »Ach, wisst ihr, Kinder, seither sind viele Jahre vergangen.«
»Es ist sehr wichtig für uns.«
Fred gähnte und lehnte sich an die Wand. »Ich kann ja auch einmal eine Pause machen«, beschloss er. »Ihr habt mich nach Black gefragt, nicht wahr? Nun, da muss ich einmal kurz nachdenken.«
Rick, Julia und Jason schwiegen, um ihn dabei nicht zu stören. Ringsherum war es ganz still. Man hörte nur das Trommeln von Freds Fingern gegen die Wand, an der er lehnte.
»Vor seiner Abreise«, begann er zu erzählen, »kam Black zu mir ins Rathaus. Wir wussten schon alle, dass der Bahnhof bald geschlossen werden würde, wegen der Flugblätter. Deshalb war ich nicht überrascht, als der Stationsvorsteher sagte, er würde weggehen. Was sollte er denn noch am Bahnhof, wenn keine Züge mehr kamen?«
»Genau«, stimmten die drei fast gleichzeitig zu, weil sie das Gefühl hatten, sie müssten jetzt etwas sagen.
»Also kam er und sagte zu mir: ›Halbwach, mein alter Freund.‹ Denn wir kannten uns schon sehr lange. Wir waren zusammen zur Schule gegangen. Wir waren
alle
zusammen zur Schule gegangen, muss man dazu sagen, denn damals gab es hier gar nicht so viele Kinder ... Jedenfalls sagte er ›alter Freund‹ zu mir und fragte mich, ob ich ihm einen Gefallen tun könnte. Weil er von Kilmore Cove weggehen wollte, brauchte er jemand, der sich um diese Ventile kümmerte.
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