Um Haaresbreite
offizieller Besuch, Kapitän?« fragte er, während er ihr die Tasse reichte.
»Nein, Sir, es handelt sich um ein persönliches Anliegen.«
Essex hob die Brauen. »Meine liebe junge Dame, vor dreißig Jahren wäre mir das vielleicht wie eine Einladung zum Flirt erschienen. Jetzt jedoch muß ich mit Betrübnis gestehen, daß Sie nur die Neugierde eines verlassenen alten Mannes geweckt haben.«
»Ich würde einen der geschätztesten Diplomaten unseres Landes wohl kaum als einen verlassenen alten Mann bezeichnen.«
»Das war einmal.« Essex lächelte. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Im Laufe der Recherchen für meine Doktorarbeit stieß ich auf einen von Präsident Wilson an Herbert Asquith geschriebenen Brief.« Sie hielt inne, zog die Abschrift aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. »Und in diesem Brief bezieht er sich auf einen zwischen England und Amerika geschlossenen Vertrag.«
Essex setzte sich seine Brille auf und las den Brief zweimal.
Dann blickte er auf. »Wie können Sie sicher sein, daß er echt ist?«
Statt einer Antwort gab ihm Heidi die beiden vergrößerten Abzüge des Fotos und wartete auf seine Reaktion.
William Jennings Bryan, dickbäuchig und grinsend, bückte sich, um in eine Limousine einzusteigen. Hinter ihm standen zwei Männer in offenbar herzlichem Gespräch. Richard Essex, elegant und vornehm, lächelte breit, während Harvey Shields mit zurückgeworfenem Kopf aus voller Kehle lachte und dabei ein paar hervorstehende Zähne zeigte. Der Chauffeur, der den Schlag offenhielt, stand steif und teilnahmslos dabei.
Essex’ Gesicht blieb ausdruckslos, als er die Vergrößerungen betrachtete. Nach einer Weile blickte er auf. »Was suchen Sie eigentlich, Kapitän?«
»Den Nordamerikanischen Vertrag«, antwortete sie. »In den Archiven des Staatsdepartements befindet sich kein Hinweis darauf. Ich finde es unglaublich, daß jede Spur eines so wichtigen Dokuments völlig verschwunden sein kann.«
»Und Sie glauben, ich könnte es Ihnen erklären?«
»Der Mann auf dem Bild mit William Jennings Bryan ist Ihr Großvater Richard Essex. Ich bin Ihrer Familiengeschichte nachgegangen, weil ich hoffte, er habe Ihnen vielleicht einige Papiere oder Korrespondenzen hinterlassen, die mir eine Tür öffnen würden.«
Essex bot ihr Sahne und Zucker an. Heidi nahm zwei Würfel.
»Da haben Sie leider Ihre Zeit verschwendet. All seine Papiere wurden nach seinem Tod der
Kongreßbücherei
vermacht. Jedes Stück. Sind Sie in der Bibliothek gewesen?«
»Ich habe heute vormittag vier Stunden dort verbracht. Ihr Großvater war ein produktiver Mann. Der Band mit seinen hinterlassenen Schriften ist überwältigend.«
»Haben Sie auch die Schriften Bryans durchgesehen?«
»Da habe ich ebenfalls eine Niete gezogen«, gestand Heidi.
»Bryan war trotz seiner bedeutenden Rednergabe als Staatssekretär kein sehr ergiebiger Verfasser vo n Memoranden.«
Essex nippte nachdenklich an seinem Tee. »Richard Essex war äußerst umsichtig und genau, und Bryan verließ sich voll und ganz auf ihn, wenn es darum ging, politische Memoranden oder diplomatische Korrespondenz auszuarbeiten. Im Staatsdepartement ist kaum etwas geschehen, das nicht seinen Stempel trägt.«
»Ich fand ihn sehr undurchsichtig.« Die Worte waren Heidi entschlüpft, bevor sie wußte, was sie sagte.
Essex’ Blick verfinsterte sich. »Warum sagen Sie das?«
»Seine Rolle als Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten ist gut dokumentiert. Aber über den Menschen Richard Essex gibt es nichts. Natürlich fand ich die übliche zusammengefaßte Biographie im Stil des
Who’s Who
mit Angaben über seinen Geburtsort, seine Eltern und Schulen. Aber nirgends stieß ich auf eine Beschreibung seiner Persönlichkeit, seiner Charaktereigenschaften, seiner Neigungen und Abneigungen. Selbst seine Papiere sind immer in der dritten Person singularis geschrieben. Er ist wie ein Porträtmodell, bei dem der Maler vergessen hat, die Konturen auszufüllen.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß er nicht existiert hat?« fragte Essex sarkastisch.
»Natürlich nicht«, erwiderte Heidi treuherzig. »Sie sind ja schließlich der lebende Beweis.«
Essex starrte auf den Boden seiner Teetasse. »Sie haben recht«, sagte er nach einer Weile. »Außer seinen täglichen Aufzeichnungen über seine Arbeit im State Department und ein paar Fotos im Album hat mein Großvater kein Andenken hinterlassen.«
»Können Sie sich an ihn erinnern?«
Essex schüttelte den
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