Um Haaresbreite
aus. Er war seit über dreißig Jahren Chefbibliothekar des Archivs und betrachtete die gesamte Geschichte der britischen Außenpolitik als sein privates Jagdgebiet. Er hatte sich darauf spezialisiert, politische Schnitzer und Skandalintrigen von Diplomaten der Vergangenheit und Gegenwart aufzuspüren, die man diskret unter den Teppich der Verschwiegenheit gekehrt hatte. Beaseley fuhr sich mit der Hand durch ein paar Strähnen seines weißen Haares und griff nach einer der Pfeifen in dem runden Pfeifenständer. Er beschnupperte das vor ihm liegende amtliche Papier wie eine Katze, die ihrer Mahlzeit mißtraut.
»Nordamerikanischer Vertrag«, sagte er ins leere Zimmer.
»Nie davon gehört.«
Für seine Mitarbeiter wäre das ein Gottesurteil gewesen. Ein Vertrag, von dem Peter Beaseley noch nie gehört hatte, konnte gar nicht existieren.
Er zündete die Pfeife an, blickte versonnen in den aufsteigenden Rauch. Das Jahr 1914 war das Ende der klassischen Diplomatie, überlegte er. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die aristokratische Eleganz internationaler Verhandlungen durch mechanische Manöver ersetzt.
Von da an war es in der Welt seicht geworden.
Seine Sekretärin klopfte an und steckte den Kopf durch die Tür. »Mr. Beaseley.«
»Ja, Miß Gösset?« Er blickte auf, ohne sie anzusehen.
»Ich gehe jetzt zum Mittagessen.«
»Mittagessen?« Er zog eine Uhr aus der Westentasche und schaute nach der Zeit. »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Wo werden Sie essen? Haben Sie eine Verabredung?«
Die beiden unerwarteten Fragen überraschten Miß Gösset.
»Aber nein, ich esse allein. Ich wollte es einmal in diesem neuen indischen Restaurant am Glendower Place versuchen.«
»Gut, das paßt mir«, verkündete Beaseley großzügig. »Ich lade Sie zum Essen ein.«
Miß Gösset war über diese seltene Ehre sehr erstaunt.
Beaseley bemerkte es und lächelte. »Ganz uneigennützig ist meine Einladung nicht, Miß Gösset. Sie können es als einen Bestechungsversuch betrachten. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe, um nach einem alten Vertrag zu suchen. Vier Augen sehen rascher als zwei, und ich möchte nicht zuviel Zeit auf diese Sache verschwenden.«
Sie hatte kaum Zeit, in ihren Mantel zu schlüpfen, als er sie schon hinausbugsierte und mit dem Regenschirm ein Taxi heranwinkte.
»Sanctuary Building, Great Smith Street«, rief Beaseley dem Fahrer zu.
»Die alten Foreign-Office-Papiere sind über fünf Gebäude in London verstreut«, sagte sie, während sie ihr Halstuch zurechtrückte, »und da ist es mir ein Rätsel, wie Sie da etwas finden wollen.«
»Die während des Jahres neunzehnhundertvierzehn geführte Korrespondenz mit den Staaten Amerikas befindet sich im zweiten Stockwerk des Ostflügels des Sanctuary Buildings«, erklärte er gelassen.
Miß Gösset war beeindruckt und schwieg, bis sie ihren Bestimmungsort erreichten. Beaseley bezahlte das Taxi, und sie traten in die Halle, wiesen ihre offiziellen Ausweise vor, trugen sich im Besucherbuch ein. Ein klappriger alter Fahrstuhl brachte sie zum zweiten Stock.
Beaseley schritt ohne Zögern auf die richtige Tür zu.
»Sie nehmen sich April vor, und ich Mai.«
»Sie haben mir noch gar nicht gesagt, was Sie suchen«, bemerkte sie.
»Alle Hinweise auf einen Nordamerikanischen Vertrag.«
Sie hatte das Gefühl, daß sie eigentlich mehr wissen sollte, aber Beaseley hatte ihr bereits den Rücken zugekehrt und blätterte in einer riesigen Ledermappe, die vergilbte offizielle Dokumente und Memoranden enthielt. Sie schickte sich ins Unvermeidliche und nahm sich den ersten Band vom April 1914 vor, rümpfte die Nase, als ihr der muffige Geruch entgegenschlug.
Sie blieben vier Stunden, und Miß Gösset hatte entsetzliches Magenknurren, aber sie fanden nichts. Beaseley stellte die Mappen an ihren Platz zurück und blickte nachdenklich drein.
»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Beaseley, aber wie steht es mit dem Mittagessen?«
Er blickte auf seine Uhr. »Tut mir furchtbar leid. Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Darf ich Sie dafür zum Abendessen einladen?«
»Das nehme ich dankbar an«, seufzte Miß Gösset.
Als sie sich ins Kontrollbuch eintrugen, wandte sich Beaseley plötzlich dem Portier zu.
»Ich möchte mich noch im Kellergewölbe der offiziellen Geheimdokumente umschauen«, sagte er. »Mein Ausweis befugt mich dazu.«
»Aber nicht die junge Dame«, sagte der uniformierte Portier mit höflichem Lächeln. »Ihr Ausweis gilt nur für die Bibliothek.«
Beaseley
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