Um Haaresbreite
Stelle der längsten Brücken der Welt«, sagte Giordino.
»Warum ist sie Ihrer Meinung nach eingestürzt?«
Giordino zuckte die Schulter. »Der Untersuchungsbericht führte zu keinen genauen Ergebnissen. Man nimmt allgemein an, starke Winde und Blitzeinschläge hätten den Unterbau beschädigt.«
Chase nickte zum Fluß hinunter. »Glauben Sie, er liegt da unten?«
»Der Zug?« Giordino starrte auf das im Mondlicht flimmernde Wasser. »Der liegt da bestimmt. 1914 fand man die Trümmer nicht, weil die Bergungsmannschaft damals nur Taucher mit Kupferhelmen und in unbequemen Leinenanzügen zur Verfügung hatte, die nichts sehen konnten, und ein paar Greifbagger mit kleinen Booten. Ihre Ausrüstung war ungenügend, und sie haben an der falschen Stelle gesucht.«
Chase nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf. »In ein paar Tagen werden wir ja sehen.«
»Schon vorher, wenn wir Glück haben.«
»Wie wär’s mit einem Bier?« Chase lächelte. »Einen Optimisten lade ich immer gern ein.«
»Gute Idee«, sagte Giordino.
Chase stieg eine Wendeltreppe hinunter, die zur Kombüse führte. Aus dem Speiseraum hörte man das Lachen und die Gespräche der Mannschaft, die gerade versuchte, mit Hufe einer Schalenantenne am Fernseher die Signale eines vorüberziehenden Satelliten zu empfangen.
Giordino spürte ein plötzliches Frösteln und Gänsehaut auf seinen behaarten Armen, und er griff nach einer Windjacke. Als er den Reißverschluß hochzog, zögerte er und horchte.
Chase erschien und reichte ihm eine Dose Bier. »Gläser habe ich nicht geholt.«
Giordino hob die Hand und gebot ihm Schweigen.
»Haben Sie das gehört?«
Chase runzelte die Stirn. »Was gehört?«
»Da.«
Chase neigte den Kopf, blickte den angespannt lauschenden Giordino an. »Eine Zugpfeife«, sagte er gleichgültig.
»Sind Sie sicher?«
Chase nickte. »Ich höre es deutlich. Kann nur das Pfeifen einer Lokomotive sein.«
»Finden Sie das nicht merkwürdig?« fragte Giordino.
»Warum sollte ich?«
»Diesellokomotiven haben Lufthupen. Nur die alten Dampflokomotiven pfeifen, und die letzte wurde vor dreißig Jahren aus dem Verkehr gezogen.«
»Könnte irgendeine Kindereisenbahn in einem Vergnügungspark irgendwo flußaufwärts sein«, meinte Chase.
»Solche Geräusche dringen meilenweit über das Wasser.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Giordino, der seinen Kopf wie eine Radarantenne hin und her bewegte. »Es wird lauter… lauter, und es kommt näher.«
Chase ging ins Steuerhaus, holte eine Landkarte und eine Taschenlampe. Er breitete die Karte auf der Reling aus und beleuchtete sie.
»Schauen Sie, hier«, sagte er und zeigte auf die kleinen blauen Striche. »Die Haupteisenbahnstrecke läuft etwa dreißig Kilometer von hier durch das Binnenland.«
»Und der nächste Schienenstrang?«
»Fünfzehn, vielleicht zwanzig Kilometer von hier.«
»Dieses Geräusch ist aber höchstens einen Kilometer von hier entfernt«, sagte Giordino.
Giordino schaute in die Richtung des Pfeifens. Der volle Mond warf ein klares Licht über die Landschaft. Er erkannte einzelne Bäume auf drei Kilometer Entfernung. Das Geräusch kam vom westlichen Flußufer über ihnen. Aber nichts bewegte sich, man sah nur die Lichter einiger ferner Bauernhäuser.
Ein Aufkreischen.
Neue Geräusche. Das Rattern schweren Stahls, das kehlige, zischende rhythmische Ausstoßen von Dampf drang durch die Nacht. Giordino stand wie versteinert da und wartete.
»Es wendet sich… es wendet sich uns zu.« Chase sprach heiser, glaubte fast seinen eigenen Worten nicht. »Mein Gott, es kommt von den Trümmern der Brücke.«
Die beiden starrten die, Brückenpfeiler empor, hielten den Atem an, konnten nicht begreifen, was da geschah. Plötzlich explodierte der ohrenbetäubende Lärm des unsichtbaren Zuges im Dunkel über ihnen. Giordino duckte sich instinktiv. Chase stand regungslos, sein Gesicht wurde leichenblaß, die Augen waren weit aufgerissen.
Und dann, ebenso plötzlich, Stille – unheilvolle, tödliche Stille.
Keiner der beiden sprach, keiner bewegte sich. Wie angewurzelt standen sie auf dem Deck, wie zwei Wachsfiguren ohne Herz und Lunge. Langsam kam Giordino wieder zu Sinnen, nahm Chase die Taschenlampe aus der schlaffen Hand.
Er strahlte den oberen Teil des Pfeilers an.
Nichts war zu sehen, nur zerfallenes Gestein und undurchdringliche Schatten.
42
Die
Ocean Venturer
ankerte über dem Wrack der
Empress of Ireland.
In den frühen Morgenstunden war ein leichter Regen
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