Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Kopf gehen! Du wirst seine Augen nie vergessen, die panische Angst in seinen Augen, nie!«, könne »traumatisierend« gewirkt und »zum Zusammenbruch des psychischen Gefüges« geführt haben, meinte Nedopil, fügte aber hinzu, dass dies zwar wahrscheinlich so geschehen sei, aber möglicherweise auch nicht eingetreten sein müsse. Denn typisch für eine »posttraumati sche Belastungsstörung«, so der Sachverständige, sei, dass »die Betroffenen nicht darüber sprechen, wie KZ-Überlebende, Soldaten, die im Krieg waren, oder Frauen, die vergewaltigt wurden«.
»Wenn man Blicken oder Unmutsgesten glauben darf«, schrieb Henryk M. Broder über diesen Vergleich, »scheint das Gericht von solchen Expertisen ein wenig genervt. ›Die Situation beim Kläger ist eine andere‹, bemerkt der Vorsitzende, als müsste klargestellt werden, dass man das Trauma eines KZ-Überlebenden oder einer vergewaltigten Frau nicht mit dem eines Kindsmörders vergleichen kann, den nicht seine Tat, sondern die Androhung von Schmerzen aus dem Gleichgewicht gebracht habe.« (»Der Fall Gäfgen«, Welt am Sonntag , 20.03.2011)
Nedopil beschrieb auch, wie er Gäfgen am 2. August 2010 zwischen 11.30 und 16.00 Uhr in der JVA Schwalmstadt exploriert hatte.
Als Gäfgen dem Gutachter seine Festnahme und die Befragung durch mich geschildert habe, sei seine Stimme brüchig geworden, und seine Mimik und Gestik habe auf Abwehrreaktionen hingewiesen. Deshalb sei nachvollziehbar und plausibel, dass Gäfgen auch durch mich eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten habe. Diese Belastungsstörung würde sich bei ihm durch Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit), Schlafstörungen, Alpträume und unkontrollierbares Auftreten belastender und erschreckender Bilder äußern. Aktuell, zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens im August 2010, habe Gäfgen nur noch diskrete Schlafstörungen und gelegentliche Alpträume.
Prof. Nedopil äußerte sich auch zur Persönlichkeit Gäfgens und führte aus, dass bei ihm Narzissmus und eine histrionische Persönlichkeitsstörung (HPS) vorliegen würden, das heißt, dass es sich bei ihm um eine egozentrische, theatralische und schauspielerische Persönlichkeit handle.
Auf Befragen des Gerichts versuchte der Gutachter zu erklären, dass alle Bedingungsfaktoren aus psychiatrischer Sicht zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken. Wie viel Gewicht jedem Einzelfaktor zuzumessen sei, lasse sich mit wissenschaftlichen und empirischen Methoden nicht bestimmen. Um das Ganze zu entflechten, gab Nedopil Gäfgens Aussage während der Exploration wieder: Gäfgen wünsche sich eine Therapie, die ihm bei der Tataufarbeitung helfen und ihm begreiflich machen solle, was er falsch gemacht habe und was er ändern könne und die ihm auch helfe, dass so etwas nicht wieder vorkomme.
Auf den Vorhalt, ob diese Erklärung nicht etwas zu banal sei und ob nicht die Haft allein ausreiche, zu verhindern, dass so etwas nicht noch einmal vorkomme, meinte Gäfgen nach langem Nachdenken, was er eigentlich wolle, sei, wieder in den Spiegel schauen zu können und die Ereignisse so zu verstehen, dass seine Sorge und seine Angst weggingen.
An Gäfgens Antwort wird die Diskrepanz erkennbar, die zwischen seinem Selbstbild, welches er aufrechterhalten möchte, seiner realen Situation und seinem Tat- und Vortatverhalten besteht und die ihn davon abhält, in den Spiegel schauen und sich selbst verstehen zu können.
Der Bevollmächtigte des Landes Hessen machte noch einen interessanten Vorhalt: Wenn der Mord noch schlimmer verlaufen sei, als im Urteil dargestellt, könnte es sein, dass die Verhörsituation eine fast vernachlässigbare Auswirkung auf seine Psyche gehabt habe.
Nach der Entlassung dieses Sachverständigen wurde der ehemalige Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner in den Zeugenstand gerufen. Zuvor aber ließ sich der Mörder in die Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt zurückbringen.
Wollte Gäfgen dem Mann, den er durch seine permanenten Lügen an den Pranger und ins berufliche Abseits gestellt hatte, nicht unter die Augen treten? Oder befürchtete er, mit unangenehmen Vorhaltungen konfrontiert und als notorischer Lügner entlarvt zu werden? Vielleicht wollte er aber auch nur »seine Ruhe haben« – so wie in der Nacht zum 1. Oktober 2002, als es uns um das Leben eines elfjährigen Kindes ging.
Der Vorsitzende Richter Christoph Hefter stellte Daschner die Frage nach seinem Gesprächspartner zum Hessischen
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