Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Menschenwürde seines Opfers zu schützen, dann muss eine Entscheidung getroffen werden. Und weil das Recht nicht dem Unrecht zu weichen hat, kann diese Entscheidung nur zugunsten des Opfers erfolgen.
Was aber ist das, die »Menschenwürde«? Das Lexikon bezeichnet sie als »abstrakten sittlichen und moralischen Wert«, der die Qualität des Handelns bestimmt, eines Handelns, das geeignet ist, bei anderen »Ehrfurcht« zu erwecken. Friedrich von Schiller sah darin die »Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft« als Geistesfreiheit. Geschützt wird daher nicht ein »unwürdiges« und »schändliches« Verhalten, nämlich die Begehung eines Mordes – und genau gegen dieses Verhalten, nicht gegen die Menschenwürde des Verbrechers, richtete sich meine Entscheidung am Morgen des 1. Oktober 2002. Die »Unwürde« eines Menschen ist aber nicht unantastbar, und sie genießt auch nicht Vorrang vor Leben, Freiheit und Menschenwürde des Opfers.
Ich mache mir Sorgen wegen des nächsten Gewaltverbrechens, vielleicht eine Entführung, eine Geiselnahme oder ein terroristischer Anschlag, bei dem das Leben von Menschen davon abhängt, ob der Staat bereit ist, seine Bürger zu schützen. Diejenigen, die uns verurteilt haben, werden sich dann fragen müssen, ob sie für deren gewaltsamen Tod moralisch verantwortlich sind, weil kaum ein Polizeibeamter mehr bereit sein wird, sich und seine Familie dem auszusetzen, was wir zu ertragen hatten. Aber sie werden wohl wie einst Pilatus ihre Hände in Unschuld waschen und den verantwortlichen Polizeiführer wegen unterlassener Hilfeleistung und Tötung durch Unterlassen anklagen. Ein gewissenloser Kindesmörder hat dann sein Ziel erreicht: Der Rechtsstaat, den er für seine verbrecherische Tat missbraucht hat, wird zum unfreiwilligen Helfer des Verbrechens.
Ich habe Herrn Daschner gefragt, ob er dieselbe Entscheidung auch heute wieder treffen würde. Er antwortete:
»Es war und ist eine Frage des Gewissens. Manchmal ist es das kleinere Übel, Unrecht zu ertragen, als mit dem Bewusstsein leben zu müssen, Unrecht begangen und damit den Tod eines Menschen mitverschuldet zu haben. Wir haben mit Jakob von Metzler und seiner Familie erfahren müssen, dass die Würde des Menschen nicht unantastbar ist. Ich danke meiner Frau und meinen Töchtern, dass sie dies ohne zu klagen ertragen und mich in jeder Hinsicht unterstützt haben. Ich danke auch den vielen Tausend Bürgerinnen und Bürgern, die in Briefen, Telefonanrufen, Leserzuschriften und Unterschriftensammlungen ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht haben. Ja, ich würde mich auch heute wieder für das Opfer und gegen das Verbrechen entscheiden.«
Ich stimme Wolfgang Daschner zu. Darüber hinaus haben Ehrlichkeit und Mut gefehlt. Was wäre gewesen, wenn die verantwortlichen Polizeibeamten ausgesagt hätten, wie aussichtslos die Lage am Morgen des 1. Oktober 2002 erschien? Wir haben uns von der Gegenüberstellung Gäfgens mit Elena von Metzler nichts erhofft, und wir durften ihr nicht zumuten, möglicherweise für den Tod ihres Bruders mitverantwortlich zu werden. Wir haben keine ernst zu nehmende Möglichkeit mehr gesehen, von Gäfgen zu erfahren, wo der Junge war. Gäfgen hatte die Macht über Leben und Tod von Jakob.
Wenn der Gerichtsmediziner hätte aussagen dürfen und bestätigt hätte, dass Jakob nicht mehr viel Zeit verblieben wäre, in seinem Versteck zu überleben, dann wäre unstrittig gewesen, dass bei der Betrachtung aus der Sicht am Morgen des 1. Oktober 2002 eine Rettung des vermeintlich noch lebenden Opfers auf andere Weise nicht möglich gewesen wäre.
Das Urteil, das über uns gesprochen wurde, hätte anders ausfallen müssen.
Am 30. Juni 2008 kam in erster Instanz eine aus sieben Richter/innen bestehende Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit sechs gegen eine Stimme zu dem Ergebnis, dass Gäfgen einer unmenschlichen Behandlung unterzogen worden war, sich aber nicht mehr als »Folteropfer« bezeichnen durfte, da wir verurteilt worden waren.
Des weiteren war dem Beschwerdeführer Genugtuung geleistet worden, da die beiden Polizeibeamten, die an der Bedrohung des Beschwerdeführers beteiligt waren, wegen Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amte verurteilt und bestraft worden waren. Darüber hinaus war das Verbot der Verwertung aller unter Drohung erlangten Aussagen im Strafverfahren ein effektives Mittel, um Nachteile, die der Beschwerdeführer dadurch
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