Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Urteil hingewiesen, auch auf die ungeheure Zeitnot und die akute Lebensgefahr für das entführte Kind. Die Kanzlerin der zuständigen Sektion antwortete lapidar, dass in dem anhängigen Individualbeschwerdeverfahren lediglich der Kläger Gäfgen und die Bundesrepublik Deutschland als Beklagte als Parteien zugelassen seien und sein Vortrag deshalb keine Berücksichtigung finden könne.
Das Urteil des Landgerichts Frankfurt hatte also eine fatale Folgewirkung bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, da dessen Richter keine eigene Prüfung der Sach- und Rechtslage durchführten. So sieht also die »Wahrheitsfindung« des EGMR aus.
Die Richter äußerten sich nicht über ein Schmerzensgeld für Gäfgen, forderten Deutschland aber auf, das nationale Schmerzensgeldverfahren »zügig zu beenden«.
Die deutsche Richterin in Straßburg und frühere Bundesverfassungsrichterin Renate Jäger schloss sich jedoch mit drei weiteren Richtern dem Sondervotum ihres spanischen Kollegen Josep Casadevall an: Diese Richter sahen keine Verletzung des Verbots einer unwürdigen Behandlung. Sie wiesen vor allem auf die Schwierigkeiten der Strafverfolgungsbehörden hin, die mit einer »extrem ernsten und tragischen Situation« konfrontiert gewesen seien, die schließlich in der Ermordung eines elf Jahre alten Kindes gegipfelt habe.
Sie hatten erkannt, dass der Staat gegen elementare Grundsätze von Recht und Moral verstößt, wenn er zulässt, dass ein unschuldiges Kind durch einen gewissenlosen Verbrecher langsam und qualvoll umgebracht wird.
Doch wir sollten diese Entscheidung des EGMR nicht überbewerten. Die Menschenrechtskonvention des Jahres 2002 hatte den Status eines einfachen Gesetzes – und damit keinen Verfassungsrang wie das Grundgesetz. Und der EGMR ist keine den deutschen Gerichten übergeordnete Instanz.
Aber wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte künftig ernst genommen werden will, muss er die Rechte aller Menschen – nicht nur die der Verbrecher, sondern auch und vor allem die der Opfer – achten und schützen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung das menschliche Leben als höchstes Rechtsgut anerkannt. Wer einen Menschen ermordet, muss mit der schwersten Strafe rechnen, die für ein Verbrechen verhängt werden kann. Die Menschenwürde ist zwar im deutschen Strafrecht nicht unmittelbar geschützt, wird aber durch Artikel 1 des Grundgesetzes garantiert; sie ist zu achten und zu schützen.
Ein Staat, der nicht bereit ist, das Leben und die Menschenwürde eines Verbrechensopfers unter seinen Schutz zu stellen, hat seine Legitimation verloren. Der Verlust des Glaubens an den Staat als Verteidiger und Beschützer seiner Bürger öffnet der organisierten Kriminalität die Türen – wie wir es aus anderen Ländern schon kennen.
Wir haben alles getan, um das Leben des entführten Kindes zu retten, seine Menschenwürde zu achten und sein Freiheitsrecht zu wahren. Dafür wurden wir bestraft und gedemütigt.
Unsere Fälle sind der Öffentlichkeit und unseren Kollegen bekannt, so könnte es geschehen, dass kein Polizeibeamter künftig mehr bereit sein wird, ein solches Risiko auf sich zu nehmen – der Staat würde also sehenden Auges Morde geschehen lassen!
Und der Verbrecher, der Jakob aus niedrigsten Beweggründen brutal ermordet und unsägliches Leid über seine Familie gebracht hat, darf sich als »Opfer« bezeichnen und soll für die angebliche »Folter« auch noch mit Schmerzensgeld entschädigt werden.
Die Verantwortung liegt jetzt bei der Politik. Schließlich schwören der Bundespräsident, der Bundeskanzler und alle Minister bei ihrem Amtsantritt, Schaden vom deutschen Volk zu wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen, ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Dazu zählt auch, und zwar an allererster Stelle, die Pflicht, menschliches Leben zu schützen.
Sie sind gefordert, Lösungen zu finden, um Artikel 2 Absatz 1 der Europäischen Konvention für Menschenrechte zu entsprechen:
»Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt …«
Wir wurden bestraft – und nach Ansicht des EGMR sogar zu gering bestraft –, weil wir durch die Ankündigung möglichen unmittelbaren Zwanges als Ultima Ratio Jakob aus der Gewalt eines skrupellosen Entführers retten wollten.
Epilog
An dieser Stelle sollte das Buch eigentlich enden und gedruckt werden. Dies überschnitt
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