Umwege zum Glück
vorweihnachtliche Stimmung.
„Ach, Reni“, klang Tante Christianes Stimme durch den Türspalt zur Küche. „Könntest du mir einen Augenblick helfen?“
Ich schob vorsichtig Bicky von meinem Schoß und stand auf. Tante Christiane machte die Tür hinter mir zu.
„Was soll ich machen, Tante Christiane?“
„Gar nichts – nun ja, du kannst ja das Wasser von den Kartoffeln abgießen, aber ich wollte eigentlich nur fragen, wie es dir geht.“
„Oh, es geht gut. Ich habe heut einen Brief von Uwe bekommen. Er ist ein feiner Kerl, er erwähnt nicht meinen dummen sentimentalen Brief. Er schreibt – nun ja, er schreibt sehr nett über unsere Kameradschaft und so. Weißt du, Tante Christiane, jetzt bin ich direkt neugierig, seine Gisela zu treffen!“
„Siehst du, Kind, was habe ich gesagt? Es war alles nur halb so schlimm. Und vielleicht hast du bisher nie die Kunst gelernt, Enttäuschungen hinzunehmen? Vielleicht hast du nie richtige Probleme gehabt?“
Ich überlegte es mir.
„Vielleicht nicht – jedenfalls nicht, was Liebe betrifft, da bin ich wohl verwöhnt. Ich habe eigentlich nur eine einzige Schwierigkeit gehabt, das war, als Vati mir erzählte, er würde wieder heiraten und ich bekäme eine Stiefschwester.“
„Aber mit der verstehst du dich doch bestens.“
„Und ob! Wir sind dicke Freundinnen. Aber anfangs habe ich geheult, weil ich meinte, da käme jemand und nähme mir meinen Papa weg. Was natürlich Blödsinn war. Im Gegenteil. Niemand nahm mir etwas weg, Papa schenkte mir eine reizende Mutti und eine prima Schwester!“
„Und deine Schwester? War es für sie auch schwierig?“
„Anfangs ja. Weißt du, ich blieb ja in meinem Zuhause und in der Schule und in – in – “
„In deinem Milieu, meinst du?“
„Ja, eben! Aber Madeleine wurde sozusagen entwurzelt, sie verlor ihr Zuhause, wurde weggerissen von ihrer Heimatstadt, von ihrer Schule und ihren Freundinnen. Außerdem ist sie nicht so impulsiv wie ich, sie schließt nicht so leicht neue Freundschaften. Ja, als mir das alles klar wurde, tat sie mir furchtbar leid, und ich versuchte, lieb zu ihr zu sein – und dann ging es großartig.“
„Siehst du“, bestätigte Tante Christiane lächelnd. „Du kannst, wenn du willst!“
„Was kann ich?“
„Denken! Und anscheinend auch richtig handeln. So, nun stell die Teller in die Durchreiche und schmuggele dieses Tellerchen für Bicky unter meinen Stuhl – und dann rufe die Bande zu Tisch!“
Es war reizend gedeckt im Eßzimmer, mit Tannenzweigen und roten Kerzen, und das Essen war ein Gedicht. Zu meinem Staunen standen heut Weißweingläser auf dem Tisch.
„Hab keine Angst, Reni“, sagte Tante Christiane. „Diesen Wein kaufte ich im Sommer in Österreich, grade um etwas im Haus zu haben, was man auch Autofahrern vorsetzen kann. Mein Sohn hat mich ausgelacht und behauptet, den Wein könne man mit gutem Gewissen Säuglingen in die Flasche tun. Außerdem kriegt ihr nur je ein Glas. Aber das eine Glas brauchen wir dringend, denn Reni und ich müssen nun feierlich Brüderschaft – ich meine, Tantenschaft trinken.“
„Hier muß man sich ranhalten!“ rief Tante Isa. „Der Himmel weiß, wann es das nächstemal Wein hier in diesem Hause gibt. Darf ich mich anschließen, Reni? Dann haben wir es hinter uns, und früher oder später würde es ja doch dazu kommen!“
Ich freute mich ehrlich darüber. Jetzt hatte ich das Gefühl, ganz und gar bei den Donnerstagstanten aufgenommen zu sein!
„Wie ist es gemütlich bei euch!“ sagte Anke nachher beim Kaffee. „Wenn man die ganze Woche nur zwischen Vorlesungen und Zahnklinik und einer einsamen Bude pendelt und abends ganz allein zwei Schnitten ißt, dann es es himmlisch, in einem gemütlichen Wohnzimmer zu sitzen, mit Adventskranz und Blumen.“
„Ich wünschte, meine Schülerinnen hätten dieselbe Einstellung“, seufzte Tante Isa. „Ich wollte mit meiner Klasse eine nette Adventsfeier veranstalten, aber damit kam ich nicht an! Wenn die Gören das Wort Feier oder Fest hören, dann wollen sie nur Beatmusik und Tanz. Kerzen und Kuchen und Tannenzweige und Weihnachtsmusik lassen sie vollkommen kalt.“
„Wie alt sind die Mädchen?“ fragte ich.
„Fünfzehn bis sechzehn.“
„Dann hat die Jugend sich geändert in den letzten fünf Jahren“, meinte ich. „Als ich fünfzehn war, haben wir ein entzückendes Adventsfest mit unserer Klassenlehrerin gehabt. Versteh mich bitte richtig, ich habe nichts gegen Beatmusik und Tanz,
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