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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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krachen.
    Sie hat nicht erwartet, dass es einen solch ohrenbetäubenden Lärm machen würde. Das Glas hört gar nicht mehr auf zu splittern. Sekunden später gehen in allen Häusern die Lichter an, erschreckenderweise auch in dem ihrer Eltern.
    Sie hört Schritte auf der Treppe. Schon wird es im Wohnzimmer hell, und Deirdre kommt herein, mit Lockenwicklern auf dem Kopf, das ungeschminkte Gesicht zehn Jahre älter.
    Sie starren sich an, der Boden zwischen ihnen von glitzernden Glasscherben übersät.
    »Ich dachte, du wärst tot«, sagt Carol.
    »Wieso würdest du auch sonst um drei Uhr morgens das Fenster einschlagen? Und das Blumenbeet zertrampeln?«
    Carol blickt auf den matschigen Wust geknickter Stängel, in dem sie steht.
    »Dein Vater hat vor lauter Schreck bestimmt noch einen Schlaganfall bekommen.«
    »Ist er auch wach geworden?«
    »Carol, halb Croydon ist wach geworden.« Sie späht auf die Straße hinaus und zieht hastig den Gürtel ihres Bademantels strammer. »Deinetwegen hat die Nachbarschaft jetzt was zu gaffen.«
    Carol hat immer noch den Schraubenschlüssel in der Hand. Sieht sicher gar nicht gut aus, so ein bewaffneter Eindringling mitten in der Nacht. Sie dreht sich um und winkt den Gaffern fröhlich zu, aber die starren nur gebannt zurück.
    »Am besten fährst du wieder«, sagt Deirdre. »Obwohl, wie wir jetzt schlafen sollen, mit dem kaputten Fenster …«
    »Der Regen scheint schon nachzulassen.«
    »Und was ist mit den besoffenen Rowdys und Mördern, die die Straßen unsicher machen?«
    »Dann lass mich …«
    »Nein danke. Das mach ich selbst. Auf die Weise hab ich endlich mal was zu tun in meinem müßigen Dasein. Du kriegst dann die Rechnung für die Scheibe.«
    »Natürlich.«
    Carol wünscht sich verzweifelt, die Sache würde anders ausgehen. Können sie denn nicht darüber lachen? Können sie nicht dankbar sein, dass der Tod sie verschont hat? Sie sieht es fast vor sich – Mutter und Tochter, die sich bei einer Tasse Tee über den Zwischenfall amüsieren, die gemeinsam die Herkulesarbeit der Scherbenbeseitigung in Angriff nehmen –, aber sie weiß nicht, wie sie es zuwege bringen soll. Sie sieht es, aber es ist unerreichbar, dieses gelobte Land der Liebe und Vertrautheit.
    Weil sie nicht weinen will, wendet sie sich zum Gehen.
    »Eine Frage noch«, sagt Deirdre. »Wieso hast du gedacht, ich wäre tot?«
    »Ich hatte einen Traum.«
    Deirdre starrt sie an. »Also wirklich, ich muss schon sagen. Hier angestürzt zu kommen, wenn du glaubst, ich wäre nicht mehr da. Schön wär’s, du würdest solchen Eifer an den Tag legen, solange ich noch am Leben bin.«
    Darauf gibt es nichts mehr zu sagen. Erst auf dem Weg zum Wagen merkt Carol so richtig, wie durchgefroren und klitschnass sie ist. Als sie den Motor anlässt, steht Deirdre immer noch am Wohnzimmerfenster und blickt ihr nach.
    Sie müsste nach Hause fahren, das ist ihr klar, aber jetzt zurück zu Bob? Sie kann es nicht, genauso wenig, wie sie hierbleiben kann. Langsam rollt sie davon, ohne zu wissen, wo es hingehen soll; nur eins ist gewiss: Sie darf nicht anhalten.

51
    Er hätte nicht noch mal herkommen sollen. Die Füße tun ihm weh, und der Regen hat zwar aufgehört, aber dafür fegt ein scharfer Wind durch die Straßen. Das ist kein Wetter zum Herumstreunen, schon gar nicht in seinem Alter, aber was bleibt ihm anderes übrig? Die Zeit läuft ihm davon, jeder Tag, der vergeht, bringt ihn näher an den Rand des Abgrunds. Nur wenn er Connie findet, stürzt er nicht hinab.
    In einem leeren Café wärmt er sich bei einer Tasse Tee auf. Je leerer, desto lieber sind sie ihm; ganz allein in ein volles Café zu gehen, dazu fehlt ihm einfach der Mut. Aber leider sind die leeren meist aus gutem Grund leer: kalter Tee, klebrige Tische, unfreundlicher Service, komische Gerüche. Diesmal wird er von einer Frau bedient, die offensichtlich das Leben hasst. Und nicht nur ihr eigenes. Ihre brütende Böswilligkeit schlägt ihm bereits beim Eintreten entgegen. Am liebsten würde er gleich wieder gehen, aber sie fixiert ihn schon von der Theke aus, und es käme ihm unhöflich vor, einfach kehrtzumachen.
    Immerhin beschert ihm das überteuerte, laue Spülwasser zehn Minuten Wärme.
    Er setzt sich ans Fenster und beobachtet die Leute, die sich mit gequälter Miene gegen den Wind stemmen; ab und zu weht ein Stück Abfall durch die Straße. Der Anblick ist so trostlos, dass Albert sich an Berichte aus Kriegsgebieten erinnert fühlt: Vertriebene, die sich

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