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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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mit ihren wenigen verbliebenen Habseligkeiten dahinschleppen. Croydon ist die perfekte Kulisse dafür. Die Leute draußen sind keine Passanten, sondern Verlorene und Verdammte, die es nicht mehr geschafft haben, mit dem letzten Hubschrauber aus der Stadt herauszukommen, leichte Ziele für Mörser und schwere Artillerie.
    Die Bedienung schreckt ihn aus seinen Gedanken.
    »Darf’s noch was sein?«
    »Oh … nein, nein danke.«
    Sie reißt ihm die leere Tasse weg. »Dann werden Sie jetzt wohl gehen wollen.«
    Da es Albert nicht ratsam erscheint, sich mit einer Frau anzulegen, die im Umgang mit Messern bewandert ist, zieht er lieber seine Jacke an und tritt wieder hinaus in die eisige Kälte.
    Was für eine aberwitzige Idee, etwas finden zu wollen, von dem er nicht einmal weiß, wo er danach suchen soll. Ein ebenso frustrierendes wie sinnloses Unterfangen.
    Albert wendet sich nach links, wenn auch nur, damit ihm der Wind nicht entgegenbläst; auch er ist jetzt einer der Vertriebenen, ein Flüchtling, der einer ungewissen Zukunft entgegengeht …

52
    »Du bist immer dieselbe Strecke auf der M25 rauf und runter gefahren?«, sagt Helen. »Geschlagene drei Stunden?«
    »Um die Zeit ist die Autobahn so schön leer.«
    »Darum geht’s doch gar nicht. Mit deinem Weltschmerz hast du einen ökologischen Fußabdruck in der Größe von Wales hinterlassen!«
    Offenbar merkt sie selbst, dass es kein besonders geeigneter Augenblick für eine Umweltpredigt ist, denn sie lenkt ein.
    »Du hättest doch zu mir kommen können«, sagt sie zögernd, hoffnungsvoll.
    »Ich wollte dich nicht wecken.«
    »Kann es sein, dass du mir in letzter Zeit aus dem Weg gehst?«
    »Unsinn, natürlich nicht.« Zum ersten Mal sehen sie sich in die Augen. Beide wissen, dass es gelogen ist. »Also gut, ja, irgendwie schon.«
    »Wegen dieser Lesbengeschichte?«
    »Ach Scheiße, Helen, meinst du etwa, ich würde mich von ein bisschen Busengrapschen abschrecken lassen?« Sie seufzt. Allmählich löst sich die gespannte Atmosphäre. »Es war wegen dem, was du über Bob gesagt hast. Dass ich mich damit zufriedengeben soll, was ich habe. Nur, was habe ich denn schon? Nichts. Das ist es ja gerade. Gut möglich, dass ich allein auch nicht glücklich werde. Aber unglücklicher genauso wenig. Was habe ich denn groß zu verlieren?«
    »Ich wollte dir nur helfen.«
    »Gott, ja, ich weiß. Und vermutlich hast du sogar recht. Ich treffe schließlich seit zwanzig Jahren die falschen Entscheidungen.«
    »Nein, nein, ich meine doch …« Sie bricht ab und bietet Carol einen Teller mit formlosen Brocken an, die wie totgebackenes, zusammengepapptes Kaninchenfutter aussehen.
    »Selbstgemachte Vollkornkekse. Sehr gesund.«
    »So sehen sie auch aus. Danke, vielleicht später.«
    Helen nimmt sich einen. Als sie hineinbeißt, regnen rasierklingenscharfe Haferflockensplitter auf ihren Pullover herab. Um die paar Brösel zu kauen, die tatsächlich den Weg in ihren Mund gefunden haben, braucht sie eine halbe Ewigkeit.
    »Sie sind wahrscheinlich besser zum Tunken«, räumt sie schließlich ein. »Und? Wann warst du wieder zu Hause?«
    »Ach, ich weiß nicht, so gegen halb acht vielleicht. Die Sonne ging schon auf. Deswegen bin ich dann auch heim. Im Dunkeln rumzufahren, war toll, aber im Hellen hat es mich noch mehr deprimiert.«
    »Das Tageslicht offenbart uns, was wir wirklich sind.« Carol verzieht das Gesicht. »Ich meine, was wirklich mit uns los ist.«
    Helen tunkt den nächsten Keks in ihren Tee. Er löst sich augenblicklich auf und sinkt als Hafermatsch auf den Boden der Tasse.
    »Wenigstens war ich wieder zu Hause, als Bob aufgewacht ist«, seufzt Carol. »Wie hätte ich ihm denn auch diese Nacht erklären sollen?«
    »Welchen Teil davon?«
    »Na, alles, den ganzen Irrsinn.« Während sie versunken vor sich hin starrt, löffelt Helen den Keksbrei aus dem Tee. »Das Schlimmste ist, dass mir der Traum nicht nur real vorkam, sondern richtig. Es war richtig, dass sie tot war.«
    »Na ja, du magst sie ja auch nicht, oder?«
    »Und?«
    »Und was?«
    »Das ist ja nun wirklich kein Geheimnis. Ich dachte immer, du wärst die große Traumdeuterin.«
    »Weil ich ein paar Bücher darüber gelesen habe, bin ich noch lange keine Expertin.«
    Offenbar ist ihr das Thema unangenehm.
    »Ich muss nur kurz den Tee aufgießen«, sagte sie, nimmt die Teekanne und läuft in die Küche.
    »Wie geht’s Jane?«, ruft Carol ihr hinterher.
    »Sie wohnt jetzt ein paar Wochen bei ihrem Vater. Das müsste

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