Unbekannt verzogen: Roman
Croydon so ziemlich das Letzte, was Carol erwartet hätte – und doch steht Deirdre vor ihr und bittet sie um Vergebung.
»Ich war dir eine schlechte Mutter.«
»Nein, nein, das stimmt nicht«, entgegnet Carol. Sie meint es zwar nicht so, doch sie hat das Bedürfnis, diese plötzliche Selbstanklage etwas abzumildern. »Es war ja auch sicher nicht leicht für dich, mit Dad und allem …«
»Aber das ist keine Entschuldigung, das habe ich jetzt begriffen.« Sie lächelt, strahlt geradezu. Sie sieht jünger und lebendiger aus als je zuvor. »Du hattest recht, dass ich einfach nur Angst habe. Seit ich denken kann, habe ich mich davor gefürchtet, zu leben und zu lieben.« Carols Herz schlägt schneller, als Deirdre sich neben sie setzt, so nah, dass sie ihren Atem spürt. »Und ich mache mir Sorgen, dass ich diese Angst auch auf dich übertragen habe.«
»Nein, ich … ach, ist schon okay.«
»Du sollst wissen, wie stolz ich auf die Frau bin, zu der du geworden bist.«
»So besonders viel habe ich eigentlich nicht auf die Beine gestellt.«
»Aber doch, natürlich, siehst du das denn nicht?«
Deirdre nimmt sie in den Arm, und Carol weiß schon, was jetzt kommt. Sie bricht in Tränen aus, während ihre Mutter sie so fest an sich drückt, dass sie ihre Wärme und ihren Herzschlag fühlt.
»Ich hab dich so lieb, Carol, das musst du mir glauben. Ich werde dich immer liebhaben.«
Schluchzend klammert Carol sich an sie. »Und ich … ich …«
Sie fährt im Bett hoch, atemlos und mit tränenüberströmtem Gesicht.
Verwirrt sieht sie sich nach ihrer Mutter um. Saß sie nicht eben noch auf dem Bett? Aber das Zimmer ist still und dunkel, Bob schnorchelt neben ihr friedlich vor sich hin, und ans Fenster trommelt der Regen.
Da schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf, so bestechend klar, dass sie ihn laut aussprechen muss.
»Mein Gott, sie ist tot. Sie ist tot.«
Bob brummelt im Schlaf. Leise schlüpft sie aus dem Bett und schleicht auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Unten tastet sie im Dunkeln nach ihrem Handy; sie will kein Licht machen, will nichts tun, was die Situation noch realer erscheinen lässt, als sie schon ist.
Sie wählt und wartet, jede Sekunde eine Ewigkeit.
Besetzt.
Wahrscheinlich hat ihr Vater wieder den Hörer von der Gabel gerissen und ist vielleicht außer sich vor Panik angesichts des reglos daliegenden Leichnams im Marks & Spencer-Nachthemd.
Ohne zu zögern, wirft Carol sich einen Mantel über und rennt hinaus zum Auto, so aufgewühlt, dass sie den Regen gar nicht wahrnimmt.
Erst als sie einen Blick in den Rückspiegel wirft, sieht sie, wie nass sie geworden ist. Die Haare kleben ihr am Kopf wie geschmolzenes Plastik, und ihr Gesicht schimmert feucht.
Sie jagt durch die ausgestorbenen, regenglatten Straßen. Es fühlt sich richtig an, dass ihr Wagen der einzige weit und breit ist, als sei die ganze Stadt nur eine aufwändige Kulisse für ihr persönliches Schauspiel.
Gewiss wird sie sich noch nach Jahren an jedes Detail dieser Nachtfahrt erinnern, an das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt, an ihre Atemwolken in der kalten Luft – vor allem aber an das überwältigende Gefühl von Verlassenheit und Leblosigkeit rings umher.
Was sie machen soll, wenn sie bei ihren Eltern ankommt, hat sie vor lauter Eile noch gar nicht bedacht. Obwohl ihre Mutter tot und ihr Vater ein Krüppel ist, fällt sie unwillkürlich zurück in die Rolle des verängstigten Kindes vor dem Höllentor und drückt auf die Klingel. Erst als es laut durch das dunkle Haus schrillt, fällt ihr wieder ein, dass die Zeiten sich geändert haben. Sie hat jetzt das Heft des Handelns in der Hand. Ihr Vater ist hilflos ohne sie.
Sie rennt zurück zum Wagen, wühlt im Kofferraum nach Bobs Werkzeugkasten und bewaffnet sich mit einem großen Schraubenschlüssel. Schwer und kompakt liegt er in ihrer Hand, als sie wieder zum Haus läuft. Der Regen tropft ihr aus den Haaren, rinnt ihr in die Augen, findet den Weg zwischen ihre Zehen.
Da die Haustür keine Scheibe hat, die sie zerschlagen könnte, bleibt ihr nichts anderes übrig, als durchs Blumenbeet zum Wohnzimmerfenster zu stapfen.
Als sie sich im Glas gespiegelt sieht, wird ihr bewusst, wie absurd es ist, dass sie in ein Haus einbrechen will, aus dem sie ihre ganze Kindheit lang ausbrechen wollte.
Ihr Spiegelbild holt mit dem Schraubenschlüssel weit aus, hält ihn einen verheißungsvollen Augenblick in der Schwebe und lässt ihn dann mit voller Wucht durchs Fenster
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