Unbekannt verzogen: Roman
reichen, um ihr die Augen zu öffnen, dass er doch nicht so perfekt ist, wie sie glaubt.«
»Und um seiner neuen Frau gewaltig auf die Nerven zu fallen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.« Sie schaut kurz zur Tür herein. Im Hintergrund summt der Wasserkocher. »Und was ist mit Sophie? Ahnt sie immer noch nichts?«
»Wir haben ihr gesagt, dass wir noch unseren Resturlaub aufbrauchen wollen. Darauf hat sie bloß gemeint, wieso wir das nicht in Italien machen können. Von meinem Vorschlag, Spaghetti zu kochen und so zu tun, als ob, war sie nicht sehr begeistert.«
Lachend verschwindet Helen wieder in der Küche. Sofort kreisen Carols Gedanken um die Dinge, die ihr auf der Seele liegen.
»Ein Gutes hat mein Traum von gestern Nacht vielleicht. Mir ist klargeworden, dass ich aufhören muss, mir etwas vorzumachen.«
»Wie meinst du das?«, ruft Helen.
»Irgendwie habe ich wohl immer geglaubt, das Problem mit Deirdre würde sich früher oder später von allein lösen. Dass sie sich, wenn ich nur lange genug durchhalte, wie durch ein Wunder in die perfekte Mutter verwandelt. Als könnte man Charakterschwächen überwinden wie eine Grippe. Aber nun habe ich kapiert, dass keine Besserung zu erwarten ist.«
Als Helen wieder hereinkommt, blickt Carol zu Boden. Es fällt ihr leichter, ihr Herz einem schlammfarbenen Flokati auszuschütten.
»Genau wie bei Bob, nicht? Ich meine, ich bin ja selber schuld, wenn ich ihm immer nur das sage, was er hören will. All die Jahre hab ich darauf gewartet, dass er sich ändert, hab mir eingeredet, ach, im Moment kann ich ihn nicht verlassen, er verpuppt sich doch gerade, und danach wird er ein schöner Schmetterling. Das Dumme ist bloß, er ist nicht mal eine Raupe – er ist eine Nacktschnecke.«
»Wie geht es ihm denn?«
»Das kannst du gleich selber sehen. Er holt mich um halb zwölf ab. Er will sich einen Film mit mir ansehen – Geballer, Explosionen und jede Menge Tote.«
»Vielleicht hat das eine allegorische Bedeutung und steht für den Kampf, der vor ihm liegt.«
»Bob und allegorisch? Der doch nicht. Der steht einfach nur auf dämliche Actionfilme.«
Draußen weht der Wind eine Mülltonne um, das Scheppern hallt laut durch die leere Straße.
»Und das Wetter macht ihm nicht zu schaffen?«
»Ach was, nicht das Geringste. Mir ist nämlich noch etwas klargeworden. Er ist wie meine Mutter: unverwüstlich. Im Grunde bräuchte ich mir wegen dem Krebs gar keine Sorgen zu machen. Wahrscheinlich überlebt er uns alle.«
Bob steigt nicht aus, sondern drückt nur ein paar Mal auf die Hupe.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass er mich meidet«, meint Helen, während sie ihn durchs Wohnzimmerfenster beobachten.
»Ich wünschte, er würde mich auch meiden.«
»Macht er wirklich einen Bogen um mich?«
»Dafür ist er doch viel zu schlicht gestrickt.« Helen wirkt nicht überzeugt. »Ich denke, er hat bloß Angst, dass wir hier irgendwelche Weibersachen machen. Und er will mit so was seine Männlichkeit nicht in Gefahr bringen.« Sie wickelt sich den Schal um den Hals und knöpft den Mantel zu. »Und wo er doch jetzt nur noch den einen Hoden hat, ist seine Männlichkeit sowieso ein Reizthema.«
»Na, dann grüß ihn schön von mir, ja?«
»Wenn’s weiter nichts ist.« Sie umarmt Helen kurz. »Und ruf mich an, falls du rausfindest, was mein Traum bedeutet!«
»Netter Vormittag?«, empfängt Bob sie.
»Ganz okay. Sie lässt dich grüßen.«
»Aber sie steht in letzter Zeit schon ein bisschen neben sich, oder?«
Sie winken Helen zum Abschied zu.
»Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck«, entgegnet Carol. »Und sie hält große Stücke auf dich.«
»Tatsächlich?« Er wirkt überrascht. Das wirft ja ein ganz neues Licht auf sie. »Sie weiß doch hoffentlich nichts? Über mich, meine ich.«
»Nein, nein, natürlich nicht. Wenn wir uns unterhalten, sind wir vollends mit ihren Problemen ausgelastet.«
Unter sorgfältiger Berücksichtigung aller verkehrstechnischen Details fährt Bob an die Kreuzung am Ende der Straße heran. Ruhig und langsam bremst er den Wagen perfekt im rechten Winkel zur weißen Haltelinie ab.
Diese Veränderung ist Carol erst kürzlich an ihm aufgefallen, das Bedürfnis, selbst die einfachsten Verrichtungen möglichst ordentlich auszuführen. Ein optimal gekochtes Ei ist nicht mehr bloß ein Frühstücksei, es ist ein Symbol dafür, dass einem entgegen allen Erwartungen doch etwas gelingen kann, während ein schlecht gebügeltes Hemd zu einem
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