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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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haben? Die bringen doch nichts als Scherereien.« Sie fischt den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. »Soll ich Sie wieder in die Stadt mitnehmen?«
    »Danke, ich komme schon zurecht«, entgegnet er etwas zu schnell. Nachdem er die Hinfahrt überlebt hat, dürfte die statistische Wahrscheinlichkeit, auch noch die Rückfahrt heil zu überstehen, verschwindend gering sein. »Ich wollte noch einen kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft machen.«
    »Was gibt’s denn da zu sehen? Doch bloß einen Haufen trostloser Hütten, in denen depressive Leute hausen.« Sie mustert ihn abwartend, ob er nicht doch noch zur Vernunft kommen will. »Herrgott«, sagt sie schließlich. »Es ist Ihnen tatsächlich ernst. Ich würde Sie ja begleiten, aber ich muss zurück ins Büro. Man weiß nie, ob nicht doch mal jemand mit einem Blankoscheck reinschneit! Obwohl von mir aus auch einer mit einer Knarre reinschneien könnte, dann hätte ich’s hinter mir.«
    Sie verstummt nachdenklich. Diese Aussicht hat anscheinend einen gewissen Reiz für sie.
    »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagt Albert.
    »Oh.« Sie schreckt aus ihren Gedanken auf. »Ganz meinerseits. Und kommen Sie wieder vorbei, falls Sie es sich doch noch mal überlegen mit dem Haus. Tot oder lebendig, ich werde im Büro sitzen.«
    Albert wartet auf dem Bürgersteig, während Marjorie sich anschnallt und den Wagen startet. Der Motor klingt so, als wollte er eher explodieren als anspringen. Albert stellt sich vor, wie sie beide in einem riesigen Feuerball aus bleifreiem Benzin verpuffen und nichts als ein rauchender Krater noch von ihrem tragischen Schicksal kündet.
    Mit kreischender Kupplung schießt sie davon. Er hat den Eindruck, dass sie ihm noch zuwinkt, aber es könnte auch nur der Rückstoß von ihrem Kavalierstart sein, der ihr die Hand vom Steuer gerissen hat.
    Sekunden später ist sie außer Sichtweite, und Albert bleibt allein zurück.
    Er ist davon ausgegangen, dass es nicht besonders schwierig sein würde, Connies Haus zu finden. Zwar hat er nicht unbedingt erwartet, sie persönlich anzutreffen, und was er in dem Fall überhaupt zu ihr sagen würde, hat er sich auch noch nicht überlegt, aber dass er, wie von unsichtbarer Hand geleitet, zu ihr hinfinden würde, davon ist er überzeugt gewesen. Schließlich haben die Götter ihm ja schon gezeigt, dass sie ihm gewogen sind, indem sie ihm ihren ersten Brief gesandt haben, also werden sie ihn auch jetzt nicht im Stich lassen.
    Von wegen. Die einzige Erkenntnis, die er, nachdem er vier, fünf Stunden durch lauter gleich aussehende Straßen gewandert ist, gewonnen hat, ist die, dass seine Schuhe nichts taugen. Die Sohlen sind so dünn, dass er genauso gut barfuß hätte laufen können, und an den Fersen hat er Blasen. Solange er noch geglaubt hat, dass sicher hinter der nächsten Ecke Connies Haus auf ihn wartet, ließen sich die Schmerzen leicht ertragen, doch je mehr diese Hoffnung schwindet, desto mehr tun ihm die Füße weh, und der kalte Wind geht ihm durch bis auf die Knochen. Endlich findet er eine Bushaltestelle.
    Als abgekämpfter Veteran schleppt er sich humpelnd die letzten Meter nach Hause, körperlich und seelisch angeschlagen. Er ist denkbar schlecht gewappnet für den Anblick, der sich ihm bietet, als sich auf seiner Etage rumpelnd die Fahrstuhltür öffnet: Max hat die toten Pflanzen ausgetauscht. Ein Wald aus grellen Blüten, fast neonfarben, leuchtend in der Abenddämmerung.
    Erst als er näher heranhinkt, bemerkt Albert, dass sie alle künstlich sind. Topf um Topf voller Plastikblumen, brutal am Boden festgeleimt, unverrückbar für alle Ewigkeit.
    Sie sind so beklemmend in ihrer Künstlichkeit, dass Albert sie wie hypnotisiert anstarrt. Manche Plastikblumen sehen ja heutzutage so täuschend echt aus, dass sie von lebenden nicht zu unterscheiden sind. Diese hier nicht. Diese hier sind eine groteske Imitation der Natur und lassen an alptraumhafte Ausbeuterfabriken irgendwo im hintersten China denken, wo die giftigen Dämpfe die Arbeitssklaven schon so blind und dumpf gemacht haben, dass sie gar nicht mehr wahrnehmen, was für Monstrositäten sie da herstellen.
    Eigentlich müsste Max längst mit der üblichen Schimpfkanonade auf den Lippen aus seiner Tür gestürzt kommen, abernein, es tut sich nichts. Die Vorhänge sind fest zugezogen, und man hört nichts als das Rascheln der Plastikblumen im Wind.

50
    Frieden mit ihrer Mutter zu schließen, ist an diesem kalten, regnerischen Abend in

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