Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
Vom Netzwerk:
Vorboten von Unheil und Verderben geworden ist.
    Auch in dem dichter gewordenen Verkehr fährt Bob in einem fast feierlich gemäßigten Tempo, exakt in der Mitte der Spur.
    Er wirft einen Blick auf das Armaturenbrett und runzelt verwundert die Stirn. »Der Tank ist ja fast leer. Ich könnte schwören, ich hab ihn erst vorgestern vollgemacht.«
    »Macht doch nichts, wir können ja unterwegs noch mal tanken.«
    Immer wieder sieht er kopfschüttelnd auf die Tankuhr, als könne er sich plötzlich selbst nicht mehr richtig trauen.
    »Jetzt zerbrich dir mal nicht den Kopf, du hast schon genug Sorgen.« Sie tätschelt ihm das Bein, ungefähr so, wie man einen inkontinenten alten Hund tröstet, der auf den Teppich gepinkelt hat. Unwillkürlich schlüpfen ihr leere Worte der Zuneigung über die Lippen. »Mach dir nichts draus, Bob. Ich lieb dich doch immer noch.«

53
    Natürlich gibt Albert nicht auf, er vertagt die Suche nur auf später. Fragt sich nur, wie lange? Er ist bis auf die Knochen durchgefroren, und dabei hat der Winter noch nicht einmal richtig angefangen.
    Als er endlich einen Bus nach Hause findet, ist er heilfroh, dass unten ein Platz frei ist; undenkbar, mit solchen Blasen an den Füßen die Treppe zum Oberdeck hochzuklettern. Da würde er schon lieber laufen.
    So weit ist es also mit mir gekommen, denkt er, neben einem bejahrten Mann sitzend, der nach Pfefferminz und Urin riecht. Ich sehe aus wie ein alter Knacker, ich fühle mich wie ein alter Knacker, und jetzt benehme mich auch schon wie ein alter Knacker.
    Wie seine Mitpassagiere blickt auch er geistesabwesend aus dem Fenster. Fährt der Bus wirklich, oder dreht sich nur die Welt an ihnen vorbei? Beides ist möglich.
    Albert ist mit seinen Schmerzen und Ängsten viel zu beschäftigt, als dass ihm die Fahne gleich auffallen würde. Sie ist ein gutes Stück weg, lugt nur knapp über die Dächer, doch der Wind lässt sie so ungestüm flattern, dass sie die Blicke auf sich zieht.
    Und als er sie schließlich bemerkt, fällt der Groschen noch immer nicht. Er wundert sich, dass sie diesem heftigen Wind standhält. So, wie sie an der Schnur zerrt, könnte sie sich jeden Augenblick losreißen und auf Nimmerwiedersehen davonwehen.
    »Teufel auch!« Kein Gedanke mehr an die Schmerzen, er springt auf und drückt den Halteknopf. »Ich muss aussteigen!«
    »An der nächsten Haltestelle«, belehrt ihn der Fahrer mürrisch.
    Aber Albert ist nicht gewillt, den fälligen Fußmarsch um eine weitere Meile zu verlängern.
    »Ich bepiss mich aber gleich«, entgegnet er laut genug, dass alle es hören können. »Schwache Blase.«
    Der Fahrer tritt sofort auf die Bremse, während die übrigen Passagiere sich stumm beglückwünschen, dass sie selbst noch nicht mit solchen Alterserscheinungen zu kämpfen haben.
    Der Bus fährt weiter. Albert meint noch genau zu wissen, in welche Richtung er gehen muss, um die Fahnenstange zu finden, doch je weiter er in die Siedlung vordringt, desto mehr verliert er in dem Labyrinth der Sträßchen und Sackgassen die Orientierung. Bei dem Wetter ist natürlich kein Mensch unterwegs, den man nach dem Weg fragen könnte, und als er endlich einem Jungen auf einem Fahrrad begegnet, verläuft das Gespräch nicht ganz wie geplant.
    »Ich suche eine Fahnenstange.«
    »Hä?«
    »Eine Fahnenstange …« Er versucht, etwas Langes, Aufrechtes mit der Hand anzudeuten.
    »Perverse Sau.«
    »Bin schon weg.«
    Der Junge blickt ihm nach. »Zeig du mir deinen, dann zeig ich dir meinen.«
    Wortlos beschleunigt Albert den Schritt, biegt auf gut Glück mal nach rechts, mal nach links ab. Als er sich schon fast damit abgefunden hat, aus der vermaledeiten Siedlung nie mehr herauszufinden, liegt sie wumms! auf einmal vor ihm, die kleine Welt, die er aus Connies Briefen kennt. Sie sieht nicht ganz so aus, wie er sie sich vorgestellt hat, eher wie eine Filmkulisse als wie ein Ort, an dem reale Menschen leben, aber Albert weiß: Er ist am Ziel. Und mit der Fahnenstange, die hoch darüber aufragt, wirkt diese Welt wie ein unabhängiges kleines Reich.
    Aus der Nähe sieht es erst recht danach aus, als würde die Fahne jeden Moment abreißen, so, wie sie im Wind hin und her klatscht, an den Rändern schon ganz ausgefranst.
    Er dreht sich um – zu Connies Haus, das er auf Anhieb erkennt. Allein das beweist doch schon, dass er hierhergehört. Der Vorgarten ist schlicht, aber gepflegt, die Thermofenster ein Garant für wohlige Wärme und Schutz vor den Naturgewalten.
    Albert

Weitere Kostenlose Bücher