Unberuehrbar
dringend nötig hatte. Aber sie war nun mal kein Jäger. Menschen ließen sich nur von Menschen aufspüren.
Hannah biss die Zähne zusammen und lud sich den magerenKörper auf den Rücken. Zu heulen hatte keinen Zweck. Sie würde weitersuchen müssen. Aber zuerst musste sie diese blutleere Hülle wegschaffen. Auch wenn das Flussufer an der Upper Eastside eine ruhige Gegend war – man konnte nie wissen, wer auf die Idee kam, hier einen Spaziergang im Mondschein zu machen. Und dabei musste nun wirklich niemand unnötigerweise auf eine Menschenleiche stoßen. Jagen in freier Wildbahn war immerhin eins der schwersten Verbrechen, die die Vampirgesellschaft kannte. Ein Verbrechen, auf das entsprechend hohe Strafen standen, wenn man sich dabei erwischen ließ.
Hannah schnürte die Leiche mit zwei Ratschengurten auf ihrem Rücken fest, um die Hände frei zu haben. Dann rannte sie los, die sumpfige Böschung hinauf und über eine versiffte Halde aus Schutt, Abfall und Geröll auf die nahegelegene Plattenbausiedlung zu. Wenigstens, dachte sie, während sie sich vom Boden abdrückte und mit einem einzigen Satz auf dem flachen Dach eines Reihenhauses landete, war ihre körperliche Verfassung noch nicht völlig im Keller. Möglicherweise war sie sogar noch schneller geworden, seit sie so stark an Gewicht verloren hatte. Über die Dächer der Vorstadt hinweg dauerte es kaum eine Minute, bis sie das mit Stacheldraht umzäunte Gebiet erreichte, das sie inzwischen als ihren Universalmülleimer bezeichnete: die Dirty Feet.
Hannah blieb auf dem Dach eines der verlassenen Häuser stehen, die an das Ghetto grenzten, und starrte hinab in die schmutzige Dunkelheit, wie sie es in den vergangenen Monaten schon so oft getan hatte. Ein Fleck mit ausgefransten Umrissen bezeichnete die Stelle, an der sie für gewöhnlich die Leichen der wenigen Streuner fallen ließ, die sie fand.
Und Tony.
Mit zwei schroffen Handgriffen löste Hannah die Ratschengurte.Die Leiche des Jungen vom Fluss taumelte durch die Luft in die Tiefe, drehte sich im Fallen mehrmals um sich selbst und kam schließlich mit einem knackenden Geräusch am Rand des Flecks zu liegen. Der Hals war unnatürlich abgeknickt und das Bein seltsam verdreht – aber in Hannah regte sich nichts bei dem Anblick. Wieso auch? Der Junge spürte es ohnehin nicht mehr. Der schale Geruch nach blutleerem Menschenfleisch drang zu ihr herauf und vermischte sich mit dem muffig-säuerlichen Gestank der verwahrlosten Bluter, die zu Tausenden in den Dirty Feet lebten. Es konnte nicht lange dauern, bis sie hier auftauchten und über den leblosen Körper herfielen. Es blieb nie etwas übrig. Nichts außer dem Fleck mit den ausgefransten Rändern.
Hannah schob die zitternden Hände in die Hosentaschen und wandte sich ab. Tony hatte auch dort gelegen. Auch er war nicht mehr da. Ob er selbst gegangen war oder ob ihn die Bluter geholt hatten – Hannah wollte es nicht wissen. Und sie würde auch nicht hier sitzen und warten, ob er vielleicht eins der Monster war, die kamen, um die Leiche, die sie vom Dach geworfen hatte, in ihre Einzelteile zu zerfleischen. Heute nicht.
Es dämmerte bereits, als Hannah nach Insomniac Mansion zurückkehrte. Die kühle Feuchtigkeit der Frühjahrsnacht war längst durch sämtliche Schichten ihrer Kleidung gedrungen, die ihr nach der Kälte in den Tunneln, die Insomniac Mansion mit dem stillgelegten Kanalisationssystem von Kenneth verbanden, klamm auf der Haut klebte. Aber durch das Fenster des Raumes, in dem der Tunnel endete, schimmerte sanftes Morgenlicht in Gold und Altrosa. Es würde ein schöner Tag werden. Für alle, die damit etwas anfangen konnten.
Mit müden Schritten schleppte Hannah sich in die Eingangshalle und die Treppe zur Galerie hinauf. Staubige Sonnenstrahlenkletterten durch die Buntglasscheibe in der Eingangstür, glitzerten im Kronleuchter unter der hohen Decke und schimmerten warm auf dem dunklen Holz des Treppengeländers. Aber Hannah hatte für die Schönheit des Tagesanbruchs keinen Blick übrig, nachdem sie den Rest der Nacht damit verbracht hatte, erfolglos nach weiteren Menschen zu suchen. Sie war völlig erschöpft – und es war höchste Zeit für die letzte karge Mahlzeit in dieser Nacht.
Die Vorhänge in Sarahs Zimmer waren zugezogen, und das Licht war gelöscht, genau wie Hannah den Raum zurückgelassen hatte. Aus dem Bett unter dem Fenster waren leichte Atemzüge zu hören. Leise trat Hannah näher. Sie dämpfte ihre Schritte aus
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