Unberuehrbar
an. Hatte sie ihn gerade fast dazu gebracht, sie loszulassen?
Die Lähmung überwältigte sie, ehe sie den Gedanken beenden konnte – stärker und schneller, als sie es jemals erlebt hatte. Hilflos musste sie zulassen, dass ihre Glieder erschlafften und dass Cedric sie schließlich vom Boden hob und in den Sessel setzte, als wäre sie eine Puppe.
»Wir sollten«, sagte er in sachlichem Tonfall, »etwas tun, damit du diese Fähigkeit in den Griff bekommst. Ich denke, das könnte dich weiterbringen. Mehr, als dich über mich zu ärgern.« Sein Lächeln war selbstironisch – fast zu selbstironisch, als dass Frei es hätte ertragen können. Aber was sollte sie tun? Sie konnte ja nicht einmal mehr sprechen, ehe er ihr das nicht erlaubte.
»Siehst du, Frei, ich möchte, dass du eins verstehst«, fuhr Cedric fort. »Ich habe dich nicht hergebracht, um dich zu unterdrücken oder zu demütigen; ich will dir helfen – aber ich werde dir nicht erlauben, meine Wohnung zu verwüsten oder mich noch einmal anzugreifen. Wenn du es irgendwie schaffenkönntest, dich nicht über alles aufzuregen, was ich dir erkläre, kommen wir sicher bald hervorragend miteinander aus.« Er bückte sich und begann seelenruhig, die Scherben von Freis Tasse aufzusammeln.
Frei starrte ihn nur stumm an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Diese Fähigkeit … Was meinte er denn damit? Was war eben passiert? Und warum war er überhaupt nicht verletzt? Sie hatte doch gespürt, wie ihre Fäuste ihn trafen, wie die Knochen splitterten, und das Blut an ihrer Haut … Frei senkte den Blick auf ihre Hände. Es ging quälend langsam, gelähmt wie sie war. Nein. Da war kein Blut an ihren Fingern. Nicht einmal ein winziger Spritzer.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Cedric hatte sich wieder aufgerichtet und musterte sie aufmerksam. Seine Miene war nun versöhnlicher. »Die Lähmung wird mit der Zeit nachlassen. Ruh dich so lange aus. Ich bin bei Sonnenaufgang wieder da. Dann reden wir weiter.« Er griff nach der Scherbe in ihrer Hand und zog sie mit einem leichten Ruck heraus. Blut quoll hervor, so dunkel, dass es fast blau war. »Und denk darüber nach, was ich gesagt habe.«
Frei nickte schwerfällig. Sie hätte sich bei ihm bedanken sollen, dachte sie matt. Dafür, dass er sie aus der Zelle befreit hatte. Dass er sie behandelte und dass er sie bei sich aufnahm. Aber sie konnte nicht. Ein Teil von ihr hasste ihn noch immer. Vor allem dafür, dass ihn das nicht kümmerte.
Reglos blieb sie sitzen, während Cedric die Wohnung durchquerte, die Scherben in einen Mülleimer warf und sich schließlich eine dünne Jacke überzog. Vermutlich war es zu kalt dafür, aber er fragte sie nicht, ob er seinen Mantel zurückbekommen könnte. Und Frei brachte es nicht über sich, ihm das wärmere Kleidungsstück anzubieten, auch wenn ihre Zunge bereits kribbelte und sie es wohl hätte aussprechen können, wennsie wirklich gewollt hätte. Aber sie wollte nicht. Also verharrte sie einfach, wo sie war, schlaff gegen die Lehne des Sessels gesunken, als hätte sie jemand dorthin gespuckt; bis der Fahrstuhl mit einem leisen Klingeln hielt und Cedric davontrug. Sie war wieder allein. Aber sie kannte es ja nicht anders.
Kapitel Sechs
Upper Eastside, Kenneth, Missouri
Der Junge schrie.
Er schrie nicht sehr lange, und seine dünne Stimme hatte kaum Zeit, sich über ein Wimmern und Quieken hinaus zu steigern, ehe Hannah ihm die Luftröhre zerbiss und er keinen Atem mehr zum Schreien hatte. Dennoch vibrierte der spitze Ton in den Nebelschlieren über dem trägen Strom des Violet River, noch lange nachdem das Herz des jungen Menschen aufgehört hatte zu schlagen.
Hannah ließ den schlaffen Körper fallen und lehnte sich erschöpft an die feuchtschmierige Betonwand des alten Brückenpfeilers hinter ihr. Ihr Handrücken hinterließ eine warme Spur aus Blut und Dreck auf ihrer Haut, als sie sich über die Stirn wischte. Mit der Fußspitze stieß sie noch einmal nach dem Jungen. Er rührte sich nicht. Natürlich nicht. Er war schwach gewesen, außerdem nicht von Hannahs Stamm, und Wahres Blut hatte er erst recht nicht gehabt.
Müll,
dachte Hannah frustriert und trat ein zweites Mal nach der Leiche – diesmal, weil sie die Enttäuschung nicht länger in sich behalten konnte.
Beschissener, dreckiger Müll.
Seit Wochen war das der erste Mensch gewesen, den sie hatte aufspüren können. Und er taugte nicht einmal, um ihr mehr als eine der Mahlzeiten zu bieten, die sie so
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