Unberuehrbar
»Ich habe dir etwas zum Anziehen gekauft.«
Erst jetzt fiel Frei wieder ein, dass er etwas neben ihr abgestellt hatte. Sie wandte sich um und erkannte mehrere Tüten, die verschiedene Kleidungsstücke enthielten – und einen Schuhkarton.
»Vielleicht ist das ein oder andere zu groß.« Cedric hob die Teetasse näher an sein Gesicht. »Damit wirst du leben müssen. Fürs Erste.«
Frei nickte sprachlos. Sie musste zugeben, dass sie mit so viel Fürsorglichkeit nicht gerechnet hatte – nicht nach ihrem Gespräch am Abend. Warum tat er das für sie, wenn er doch nur vermeiden wollte, dass jemand erfuhr, was für Auswirkungen seine Experimente auf die Versuchsobjekte hatten? Beidem Gedanken fing es in Freis Magen doch wieder an zu brodeln, aber sie verkniff sich einen Kommentar. So undankbar wollte sie nicht sein.
»Was macht dein Bein?« Cedric musterte sie aufmerksam.
Frei hob leicht die Schultern. »Etwas besser.«
Cedric nickte. Sein Blick fiel auf die leere Konserve in ihrem Schoß. Er kommentierte sie nicht, aber Frei glaubte zu sehen, dass er erleichtert war, sie nicht schon wieder ans Trinken erinnern zu müssen.
»Glaubst du, du könntest es schaffen, dich für ein paar Minuten vernünftig mit mir zu unterhalten, ohne gleich in Berserkerwut zu verfallen?«
Frei atmete tief ein und spürte, wie das beruhigende Aroma des Tees durch sie hindurch strömte. Dann zwang sie sich, Cedric direkt anzusehen. »Das kommt darauf an, ob du mir noch mal einen Grund gibst, dich zerfleischen zu wollen.«
Cedric lächelte schief – und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte Frei das Gefühl, dass er wirklich sie damit meinte. »Ich gebe mein Bestes.«
Es war entwaffnend, dachte Frei verblüfft. Dieses seltene Lächeln, das so ganz ohne den beißenden Zynismus auskam, der Cedric für gewöhnlich auszeichnete.
»Erzähl schon«, murmelte sie, während sie sich noch bemühte, ihre Überraschung nicht zu offensichtlich zu zeigen. »Ich werde mich zusammenreißen.«
Cedrics Gesicht wurde wieder ernst. »Das hoffe ich für uns beide«, sagte er ruhig. »Es gibt nämlich so einiges, um das wir uns von jetzt an kümmern müssen. Und es wäre von Vorteil, wenn wir unsere Energie dabei nicht mit unnötigem Kräftemessen verschwenden. Dass du dabei den Kürzeren ziehst, ist dir ja wohl klar.«
Frei holte etwas angestrengt Atem. Ja, dachte sie, es fing gutan, wenngleich der vierte Satz ihrer Unterhaltung sie schon wieder zur Weißglut brachte.
Cedric lächelte verhalten, als wüsste er genau, was sie dachte. Aber er sagte nichts dazu. »Fangen wir mal damit an«, fuhr er fort, »dass du mir erzählst, was du eigentlich willst. Was stellst du dir vor, wie es mit dir weitergehen soll? Und sag mir nicht, dass du die Unsterblichkeit hasst. Du kannst nicht sterben, und wir werden keine Zeit damit verschwenden, Unmögliches zu diskutieren. Also: Was willst du tun mit deinem Leben?«
Frei schwieg und sah zum Fenster hinaus, wo die Morgensonne inzwischen auf dem noch taufeuchten Gras glitzerte und den Asphalt der Straße unter einem diesigen Schleier verschwinden ließ. Ihre Lider waren bereits furchtbar schwer, aber sie spürte deutlich, dass dieses Gespräch wichtig und ihre Antwort entscheidend für den Weg war, den sie von nun an einschlagen würde. Natürlich konnte sie die Ewigkeit nicht mit Wut auf Cedric und Hass auf sich selbst verbringen. Die Ewigkeit, bei der allein der Gedanke daran ausreichte, ihr Übelkeit zu verursachen. Cedric hatte recht: Es gab Dinge, die waren weitaus wichtiger als das, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, ihr Schicksal jemals zu akzeptieren.
»Ich will eine richtige Person sein«, sagte sie endlich leise. »Ich fühle, dass mir etwas fehlt, damit ich vollständig bin. Ich … muss Red September finden. Er hat den anderen Teil von mir. Frag mich nicht, warum ich das glaube. Ich weiß es einfach. Ich will meine Vergangenheit zurück, unbedingt. Und er gehört dazu. Er
ist
meine Vergangenheit.«
Neben ihr war es eine Weile still. Aber Frei spürte, dass Cedric sie ansah. Sehr lange. Und sehr nachdenklich.
»Es gibt«, sagte er schließlich langsam, »zwei Dinge, um die wir uns kümmern sollten. Zum einen werden wir herausfinden müssen, wie wir deine Aggressivität zuverlässig unter Kontrollebringen können. Ich verstehe, warum du diesen Menschen suchen willst, aber es wäre sehr unvernünftig, Hals über Kopf loszustürmen, ehe du dir sicher bist, dass du jede deiner Handlungen
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