Unberuehrbar
absolut im Griff hast. Und ich sage dir auch, warum. Denn zum Zweiten besitzt du etwas, das außer dir meines Wissens kein anderer progressiver Vampir hat: eine Blutgabe. Eine sehr seltene noch dazu. Das ist eine große Verantwortung, und du wirst üben müssen, damit umzugehen – gewissenhaft und gründlich. Je eher wir damit anfangen, desto besser. Ich helfe dir dabei, aber du musst bereit sein, dich nach exakt meinen Anweisungen zu richten. Fragen stellen kannst du natürlich jederzeit. Aber dir muss klar sein, dass du dich selbst und andere gefährdest, wenn du mir nicht vertraust. Glaubst du, dass du das kannst?«
Nun wandte Frei sich doch wieder zu ihm um. »Eine Blutgabe?« Sie starrte Cedric entgeistert an. »Du meinst … so wie du?« Das Kribbeln, das am Abend zuvor durch ihre Arme geflossen war und Cedric fast dazu gebracht hätte, sie loszulassen, kam ihr wieder in den Sinn. Konnte es sein … war es das, was er gemeint hatte? Sie hatte eine Blutgabe?
Cedric nickte ernst. »Um genau zu sein, ist es die gleiche wie meine. Was vermutlich dein Glück ist, denn ich hatte schon ein paar Jahre Zeit, mich damit auseinanderzusetzen, wie sie funktioniert.« Er hob einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln. »Aber keine Sorge, wir fangen nicht mehr heute damit an. Du kannst ja kaum noch die Augen offen halten.« Für einen Moment legte er ihr eine Hand auf den Kopf. Dann stand er auf. »Also, Zeit zu schlafen. Morgen wird eine lange Nacht.«
Frei stellte vorsichtig die Teetasse auf den Boden. Sie durfte Cedric nicht widersprechen, wenn sie ihn nicht verärgern wollte, das hatte sie inzwischen verstanden. Wenn er sagte, sie solle schlafen, war jetzt nicht der passende Augenblick, um ihmweitere Fragen zu stellen. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie das, was er ihr gerade eröffnet hatte, auch erst einmal verarbeiten. Aber sie wollte ihn trotzdem um etwas bitten.
»Cedric …«
Cedric wandte sich um, die Brauen leicht zusammengezogen, als fürchtete er eine erneute Diskussion. Frei konnte es ihm nicht verübeln. Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Kannst du … mir vielleicht noch einmal das Stück von gestern Abend vorspielen?« Sie sah zum Flügel hinüber. »Ich glaube, dass es mir helfen würde. Beim Einschlafen, meine ich.«
Cedric strich sich die Haare aus der Stirn. Er sah erleichtert aus. »In Ordnung. Leg dich hin.«
Frei stand rasch auf, ohne auch nur an weitere Einwände zu denken. Sie griff nach den Tüten mit den Kleidungsstücken und trug sie hinüber in das Zimmer mit dem Sarg. Dann kroch sie in die weichen Decken, zwischen denen sie schon am vorangegangenen Tag so fest und traumlos geschlafen hatte. Und als sie den Deckel über sich zog, erklangen jenseits des Holzes die ersten Klaviertöne.
Als Frei am nächsten Abend erwachte, kam ihr die Dunkelheit des Sarges schon beinahe vertraut vor. Leise stand sie auf und wühlte im schwachen Licht, das durch den Türspalt drang, in den Tüten, die Cedric ihr mitgebracht hatte. Hosen, T-Shirts und Pullover, eine dicke Jacke und gefütterte Schnürschuhe. Das war definitiv besser als das Nachthemd. Wärmer vor allem.
Frei streifte Cedrics Mantel ab und warf ihn über die Truhe mit den Blutkonserven.
Blut … Sie hielt inne. Vermutlich war es besser, erst zu trinken und dann die neuen Kleider anzuziehen. Frei warf einen Blick zur Tür, durch die wie schon am Vorabend gelbes Lichtfiel, und lauschte. Aber aus dem Hauptraum war nichts zu hören. War Cedric überhaupt da? Aber sicher, dachte Frei. Bestimmt hätte er ihr gesagt, wenn er die Wohnung verlassen musste. Sie hätte sich gewünscht, dass er wieder Klavier spielte, während sie trank. Aber schließlich wollte sie ja selbstständig werden. Dann musste sie sich auch allein ernähren können.
Mit einem tiefen Atemzug öffnete sie die Truhe – und brachte es hinter sich.
Als der rote Schleier sich wieder hob, war es im Hauptraum immer noch still. Mit den letzten Fetzen ihres Nachthemds wischte Frei sich notdürftig das Blut aus dem Gesicht und schlüpfte rasch in die neuen Kleider. Dann ging sie ins Wohnzimmer hinüber.
Draußen war die Sonne wieder untergegangen, und die Kerzen erhellten die Wohnung. Wie Frei vermutet hatte, war Cedric tatsächlich da. Er saß an dem Tisch bei der Fensterfront und wandte ihr den Rücken zu. Die Tischplatte hatte er mit alten Zeitungen ausgelegt, und darauf stand eine Reihe von Tontöpfen, die mit feuchter Erde gefüllt waren. Daneben lag
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