Unberuehrbar
kalte Zelle. Sieht sie an mit diesen ungläubigen, verzweifelten Augen.
»Blue«, flüsterte Frei. »Ich bin Blue.«
Etwas zuckte im Gesicht des Mädchens. Der Lauf der Waffe senkte sich ein winziges Stück. »Blue? Verarsch mich nicht, Kleine. Reds Blue ist ein Mensch.«
Frei ballte die schmerzenden Fäuste. Wut brandete durch sie hindurch. »Das war ich auch mal!«, fauchte sie zornig. »Glaubst du, ich habe mir ausgesucht,
das hier
zu werden?«
Die Vampirin starrte sie an, mit einem Blick, den Frei nicht deuten konnte. Langsam stand sie auf und kam einen Schritt näher, bis sie mitten in dem hellen Fleck Mondlicht stand, und beugte sich herunter, um Frei aus der Nähe zu mustern. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie mehrmals tief einatmete. »Ich glaub’s nicht. Wahnsinn. Ich glaub das einfach nicht«, murmelte sie endlich und steckte den Revolver in ein Halfter an ihrer Hüfte. »Meine Fresse. Du siehst ihm sogar ähnlich.«
Frei schluckte schwer. »Ähnlich?«
Das Mädchen griff nach den Seilen, die Frei am Stuhl hielten. Fasziniert sah Frei, wie sie unter den Fingern der Vampirin erst weich wurden und dann an mehreren Stellen auseinanderfielen, als hätte sie jemand mit einem Messer durchtrennt. Augenblicklich fiel ihr das Atmen leichter.
»Verdammt, mit dir hätte ich im Leben nicht gerechnet.«Das Mädchen schob die Seilreste mit dem Fuß zur Seite. Dann ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen – ohne damit aufzuhören, Frei ungläubig anzustarren. »Mann, tut mir leid, das mit dem Schießen. Hätt ich ehrlich nicht gedacht, dass ich dich je zu Gesicht kriege. Und dann stinkst du auch noch nach Bluter, dass man diesen OASIS-Geruch kaum noch riecht … hab ich echt nicht geahnt.« Sie fuhr sich durch die wirren Haare und schüttelte, augenscheinlich noch immer fassungslos, den Kopf. »Wo kommst’n du jetzt so plötzlich her, sag mal? Und wer hat dir von Red erzählt – kannst du dich an deine Vergangenheit etwa erinnern? Das ist ja mal abgefahren.«
Frei schloss kurz die Augen. Erleichterung durchströmte sie. Sie verstand kaum, wovon die Vampirin redete – OASIS, was zum Henker sollte das sein, und warum sollte sie danach riechen? Aber zumindest eins war klar: Sie glaubte ihr. Glück gehabt. Und ihre letzte Frage war nur logisch. Doch wo sollte sie anfangen zu erzählen? Vermutlich wusste diese Vampirin mehr über Freis Herkunft als sie selbst. Der Gedanke war frustrierend. »Ist eine lange Geschichte«, murmelte sie.
Das Mädchen legte den Kopf schief und musterte sie nachdenklich. »Verstehe. Keine Sorge, ich werd dich nicht drängen. Ach – und ehe ich’s vergesse: Ich bin Hannah. Ich war Reds Ausbilderin. Er war immer so drollig, ehrlich, so versessen wie er darauf war, dich zu finden.« Sie stockte und sah Frei mitleidig an. »Ist ganz schön schiefgelaufen, das alles, was?«
Schiefgelaufen. Ja, so konnte man es vermutlich nennen, dachte Frei und spürte Bitterkeit in sich aufsteigen. Auch wenn sie nicht wusste, was geschehen war, ehe sie nach White Chapel kam, ihr ursprüngliches Ziel war es wohl nicht gewesen. Vielleicht hatte Hannah endlich ein paar Antworten für sie. Sie wagte kaum zu fragen, die Hoffnung wachsen zu lassen. Aber natürlich tat sie es doch.
»Weißt du, wo er jetzt ist?«
Hannahs Gesicht verdüsterte sich schlagartig. »Wer, Red? Tja, ehrlich gesagt – keine blasse Ahnung. Hier jedenfalls nicht. Kris hat mir nicht gesagt, wo sie hingehen, weißt du. Und ich habe keinen Schimmer, ob sie jemals wiederkommen.«
Frei hatte das Gefühl, ihr Inneres würde bei Hannahs Worten zu einem faserigen Häufchen vertrocknen, wie die Gladiolenzwiebeln, die sie getötet hatte. Keine Ahnung. Keinen Schimmer. Deutliche Worte. Deutliche Wahrheiten. Sie taten noch viel mehr weh, als sie befürchtet hatte. »Also kannst du mir nicht helfen?«, flüsterte sie mutlos. »Du weißt gar nichts?«
Hannah sah sie mitleidig an. »Nein. Gar nichts. Tut mir leid, Kleine.«
Frei spürte, wie alles in ihr leer und kalt wurde. Nein, dachte sie, aber selbst ihre Gedanken fühlten sich jetzt wie eine Lüge an. Es konnte nicht wahr sein. Dieses Haus durfte einfach keine Sackgasse sein. Wo sollte sie denn sonst suchen, wo doch selbst dieser Hinweis sie und Cedric schon so viel gekostet hatte? Cedric … Freis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was er wohl jetzt tat? Ob es ihm gutging?
Hannah seufzte und stand auf. »Hör mal, es war wirklich nett, dich kennenzulernen. Aber du kannst
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