Unberuehrbar
letzten zwanzig Jahren benutzt worden. Aber sie hatte keine besondere Lust, die ganze Nacht mit der Suche nach einem solchen Eingang zu verbringen. Das Schloss war zwar vielleicht nicht genauso alt wie das Haus selbst, aber besonders stabil sah es auch nicht aus. Eher marode und halb durchgerostet. Wenigstens versuchen konnte sie es ja mal. Entschlossen packte Frei das Schloss mit einer Hand. Die korrodierte Oberfläche schürfte ihr die Haut auf, aber sie griff trotzdem fester zu und zog mit einem energischen Ruck daran. Es knirschte, und im nächsten Moment hielt Frei das untere Teil des Schlosses in der Hand. Der Bügel steckte noch immer in den Gliedern der Kette. Ungläubig starrte Frei auf ihre Finger. Sie hatte kaum Widerstand gespürt – war das Metall wirklich so stark durchgerostet gewesen? Tatsächlich sahen die Überreste des Schlosses eher danach aus, als wären sie mit Gewalt auseinander gesprengt worden. Frei hatte gewusst, dass sie seit ihrer Verwandlung deutlich stärker war als ein normaler Mensch. Aber das überrumpelte sie nun doch. Sie öffnete und schloss ihre Finger vorsichtig, allein die fühlten sich an wie immer. Ein Schauer lief über ihren Rücken.
Ein Windstoß raschelte in den Baumkronen und rüttelte am Tor, als wolle er Frei daran erinnern, dass sie nicht hergekommenwar, um am Rand des Grundstücks zu stehen. Frei schüttelte energisch den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit, über den Unterschied zwischen ihr und einem normalen Menschen nachzudenken. Das Tor war offen, das war alles, was für den Moment zählte. Hastig wickelte sie die Kette von den Eisenstangen und ließ sie am Fuß der Mauer zu Boden fallen. Dann schob sie einen der Flügel einen Spaltbreit auf. Die rostigen Scharniere kreischten gequält, und das Tor stockte in den Angeln, verhakte sich im Gestrüpp aus Wurzeln und Flechten, die über die Auffahrt zum Haus wucherten. Aber Frei verzichtete darauf, es mit Gewalt weiter aufzudrücken, und zwängte sich durch den engen Durchschlupf in den Garten.
Das Gefühl, einen lebendigen Ort betreten zu haben, wurde augenblicklich stärker. Der Nachtwind wisperte in den Zweigen und dem Gras und den Blättern des Efeus, als trüge er ferne Stimmen heran. Glühwürmchen leuchteten wie winzige Augen im Geäst der gewaltigen Bäume. Und auch das Haus selbst schien sie aus leeren schwarzen Augenhöhlen zu beobachten. Frei blieb vor den Stufen stehen, die zur Eingangstür mit dem Buntglasfenster hinaufführten. War dort nicht eine Bewegung gewesen? Dort oben im ersten Stock hinter den finsteren Scheiben? Ein bleiches Gesicht? Frei verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust und starrte etliche Sekunden lang hinauf zu dem Fenster, hinter dem sie die Gestalt zu sehen geglaubt hatte. Nein, da war nichts.
Zögernd stieg sie die Stufen zum Eingang empor und drehte probehalber am Türknauf. Abgeschlossen. Natürlich. Diese Tür war genauso unbenutzt wie das Haupttor. Frei atmete tief durch und starrte auf ihre Hand. Sie war nicht hier, um unnötige Zerstörung anzurichten. Aber alle anderen Eingänge würden sicherlich ebenfalls verschlossen sein. Also konnte sie es ebenso gut gleich hier versuchen.
Mit einem letzten tiefen Atemzug ballte Frei die Faust und öffnete sie wieder. Dann ließ sie ihren Arm vorschnellen und schlug mit der flachen Hand gegen den Türknauf, so fest sie konnte. Holz splitterte und krachte, und der Schließmechanismus brach zusammen mit einem zwei Handteller großen Stück heraus. Quietschend schwang die Tür nach innen.
Trockene Stille schlug Frei entgegen. Vor ihr lag eine weitläufige Eingangshalle. Zu allen Seiten führten im Nachtlicht schwarze Türen in Räume und Gänge voll staubiger Dunkelheit. In der Mitte der Halle schwang sich eine breite Treppe nach oben und führte auf eine Galerie hinauf, von der weitere Türen und Gänge abzweigten. Ein riesiger Kronleuchter hing von der gewölbten Decke. Mondlicht fiel durch die Fenster auf der Galerie und fing sich in den geschliffenen Glastropfen.
Vorsichtig machte Frei einige Schritte in die Halle hinein und lauschte auf die Stille, in der sie immer noch leisen Atem zu hören glaubte. Hier war sie also. Hier hatte Red gelebt. Ihr Herz schlug bei dem Gedanken unwillkürlich schneller. Irgendwo in diesem Haus musste er Spuren hinterlassen haben. Und wenn sie noch so klein waren, sie würde sie finden.
Unschlüssig blieb sie stehen und sah sich um. Wo sollte sie anfangen zu suchen? Das Haus schien unglaublich
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