Unberuehrbar
wessen Zimmer dies war.
Und doch brauchte Frei keinen zweiten Augenblick, um es zu wissen. Die Luft im Raum war getränkt mit diesem Geruch, den sie erst einmal wahrgenommen hatte, seit sie erwacht war – und der ihr doch so deutlich und vertraut im Gedächtnis haftete, dass sie die feinste Spur davon unter tausend anderen wiedererkannt hätte. Wie erstarrt blieb Frei auf der Schwelle stehen. Dies war Reds Zimmer.
Sein
Kleiderschrank.
Sein
Nachttisch.
Sein
Bett. Und das allein machte es zum bedeutendsten Zimmer, das sie je betreten hatte.
Jemand stupste sie von hinten zwischen die Schulterblätter. »Nun geh schon rein«, brummte Hannah. Zögernd, ehrfürchtig fast kam Frei der Aufforderung nach. Auf dem alten Läufer vor dem Bett blieb sie stehen und legte behutsam die Hand auf die Matratze, schloss die brennenden Augen und atmete tief ein. Red war nicht hier. Aber sie hatte das Gefühl, ihm noch nie so nah gewesen zu sein. Nicht einmal in dem Moment, als er direkt vor ihr gestanden hatte. Am liebsten hätte sie sich einfach zwischen die hellen Laken gelegt und geschlafen, eingehüllt von dem Duft, nach dem sie so lange gesucht hatte und der sich noch immer so lebendig auf ihrer Haut anfühlte, obwohl der Mensch, zu dem er gehörte, diesen Raum seit Monaten nicht betreten haben konnte.
Das ächzende Knarren von Holz riss sie aus ihrer Versunkenheit. Überrascht öffnete Frei die Augen. Hannah war ans Fenster getreten und hatte sich dort auf einen gepolsterten Stuhl mit geschwungenen Beinen fallen lassen, ähnlich dem, an den Frei kurz zuvor noch gefesselt gewesen war. Das Kinnin die knochige Hand gestützt, starrte sie mit grimmiger Miene nach draußen.
»Vollidiot«, hörte Frei sie murmeln.
Sie runzelte verwirrt die Stirn und trat näher heran. Durch das Fenster konnte sie den Vorgarten sehen, das Tor und die Mauer – und weit unter ihr das Meer aus winzigen Lichtern, das sie so oft von ihrer Zelle aus beobachtet hatte. Dies war das Fenster, hinter dem sie von unten das bleiche Gesicht zu sehen geglaubt hatte, begriff sie. Dann war das tatsächlich Hannah gewesen.
»Wer ist ein Vollidiot?«
Hannah ließ ein verächtliches Zischen hören. »Ach, vergiss es.« Sie winkte ab und sah kurz über die Schulter zu Frei herauf. »Also, willst du irgendwas mitnehmen? Ein Andenken oder so was? Wenn ja, beeil dich, okay? Ich hab doch gesagt, du musst schnell von hier weg.«
Frei schluckte. Es war ihr also ernst. Hannah würde sie rauswerfen. Und vermutlich hatte sie auch irgendwie recht damit, auch wenn Frei jetzt, wo sie einmal hier war, am liebsten bis in alle Ewigkeit in diesem Zimmer geblieben wäre. Aber schließlich konnte sie Hannah immer noch bitten, sie bei Cedric aufzusuchen, wenn sie irgendetwas von Kris oder Red hörte. Das würde sie sicher tun, wenn Frei sie jetzt nur nicht verärgerte. Schnell sah sie sich im Zimmer um. Ein Andenken, irgendetwas. Eins der Kissen vielleicht, oder … Ihr Blick fiel auf den Kleiderschrank. Aber natürlich! Sie zögerte nicht länger. Mit ein paar Schritten durchquerte sie das Zimmer und riss den Schrank auf. Der Geruch, der das Zimmer tränkte, wurde so intensiv, dass sie glaubte im nächsten Moment umfallen zu müssen. Es war nicht mehr viel in den Fächern und an der Stange – das meiste hatte Red wohl mitgenommen. Aber auf dem Boden lag noch ein ungeordneter Haufen wild zusammengewürfelterKleidungsstücke. Zwei Hosen, ein paar schlichte T-Shirts, Socken und ein Wollpullover. Freis Knie wurden weich. Mit vor Aufregung zitternden Fingern griff sie nach dem Pullover und drückte ihre Nase hinein. Die rauen Fasern kratzten leicht an ihren Wangen, aber das störte sie nicht.
Red …
Es war, als wäre er wieder bei ihr, hielte sie fest. Vervollständigte sie. Frei schloss die Augen und atmete tief ein. Dafür, dachte sie, nur dafür hatte es sich gelohnt, herzukommen. Dieser Geruch, das war ihr Zuhause. Sie würde es niemals wieder hergeben.
In diesem Augenblick hörte sie, wie Hannah hinter ihr zischend einatmete. »Scheiße!«, flüsterte sie. Dann sprang sie auf die Füße und packte Frei grob an der Schulter.
»Verflucht noch mal, wir waren zu langsam.«
Frei riss die Augen auf. »Du meinst …«
Hannah musste nicht antworten. Die Europäer. Sie waren hier.
»Du bleibst hier drin.« Hannah starrte Frei eindringlich an. »Du tust keinen Schritt aus diesem Zimmer raus, kapiert? Wenn die dich erwischen, dann bist nicht nur du in Schwierigkeiten!«
Frei nickte.
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