Unberuehrbar
abartige Vorstellung. Andererseits – wenn sie die Wahl hätte, sich entweder von Leichen zu ernähren oder aber selbst von innen zu verwesen – hätte sie dann nicht genauso entschieden?
Den Rest des Weges sprachen sie nicht mehr. Hank schien nicht besonders scharf darauf zu sein, das Thema zu vertiefen, und Frei selbst war auch die Lust vergangen, noch weitere Details über seinen Lebensstil zu erfragen. Stumm wandertensie durch die dunklen Vorstadtsiedlungen, wo die Zahl der erleuchteten, belebten Fenster immer spärlicher wurde. Und schließlich blieb Hank am Rand einer Straße stehen, die sich einige Meter weiter einen Hügel hinaufzog.
»So, bitte sehr, Madam«, sagte er spöttisch. »Da wären wir. Vicky Hill zu Ihren Diensten.«
Frei blieb ebenfalls stehen und spähte hinauf in die Schatten der Bäume, die den Hügel bedeckten und die Straße schon bald verschluckten. Dort oben also sollte Insomniac Mansion sein? Sie konnte keine Anzeichen entdecken, dass es dort oben ein Gebäude gab. Sie durchsuchte die gestohlenen Erinnerungen, die sie von Cedric bekommen hatte – fand aber nichts, was ihr weitergeholfen hätte. Aber wenn dies wirklich Victoria Hill war, dann war sie hier richtig.
Sie wandte sich zu Hank um. »Danke sehr.« Mehr fiel ihr beim besten Willen nicht zu sagen ein. Sie wusste nur, dass sie froh sein würde, endlich wieder allein zu sein. Hanks Gegenwart war nicht tröstlich. Im Gegenteil.
Hank legte ein wenig den Kopf schief. »Ich sollte dir eins überziehen, deinen Schatz nehmen, mmh, und mich aus dem Staub machen, weißt du.« Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Scheint mein netter Tag zu sein. Hast Glück.«
Frei konnte nicht anders – sie musste lächeln. Sie war wieder fast vollständig geheilt und bei Kräften. Sie hätte Hank den Hals aufgebissen, ehe er auch nur einen Finger an die Konserven hätte legen können, da war sie sich sehr sicher. Und er wusste das auch.
»Ja«, erwiderte sie trotzdem. »Da hast du wohl recht. Danke noch mal.« Sie ließ den Rucksack vom Rücken gleiten und zog die versprochene Konserve heraus, um sie Hank zuzuwerfen. »Gute Heimreise.«
Hank fing die Konserve auf und tippte sich an den Hut.»Meinen Dank, Gnädigste. War mir ein Vergnügen.« Er deutete eine spöttische Verbeugung an. »Viel Erfolg bei deinem Ausflug. Vielleicht sehen wir uns mal, mmh?«
Frei nickte knapp. »Vielleicht.« Sie glaubte das nicht. Aber man konnte ja nie wissen.
Sie beobachtete noch eine Weile, wie Hank sich umwandte und, den Hund dicht an seiner Seite, die Straße wieder hinunter in Richtung Innenstadt schlenderte, bis er hinter einer Biegung verschwand. Dann wandte sie sich um. Der Victoria Hill ragte stumm und düster über ihr auf. Frei atmete tief durch. Hier war sie also.
Nun konnte sie nur hoffen, dass sie auch etwas finden würde.
Die Straße, die den Hügel hinaufführte, wurde schnell zu einer staubigen Schotterpiste, auf der nur noch wenige aufgesprungene Inseln aus Asphalt übrig geblieben waren und die vermutlich seit Jahrzehnten kein Auto mehr befahren hatte. Und schließlich wäre sogar die Bezeichnung Schotterpiste weit übertrieben gewesen, um den schmalen Pfad zu beschreiben, der sich mehr und mehr im Dickicht verlor, je weiter Frei bergauf kletterte. Manchmal war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch einem Weg folgte.
Doch dann tauchte es endlich vor ihr im Schatten des Waldes auf: das Haus, dessen Bilder sie in Cedrics Kopf gefunden hatte. Das einzige Gebäude auf dem Victoria Hill. Insomniac Mansion.
Es hatte seinen Namen eigentlich nicht verdient, dachte Frei, als sie vor dem Tor in der Bruchsteinmauer stehen blieb, hinter dem sich in einem verwilderten Vorgarten das gewaltige Anwesen erhob. Genaugenommen sah es mit seinen moosbewachsenen Schindeln und dem Efeu, das sich über zwei Stockwerke die alten Wände emporrankte und sogar den schlankenTurm an der Vorderseite umschlang, so aus, als würde es seit Jahren in tiefem Schlaf liegen. Und doch spürte Frei etwas, als sie das Gemäuer betrachtete. Etwas Lebendiges, das diese bröckelnden Mauern atmen ließ. Insomniac Mansion schlief. Aber es war nicht tot. Frei konnte es fühlen, mit jeder Faser ihres Körpers.
Eine dicke Kette mit einem großen, altmodischen Vorhängeschloss hielt die Flügel des schmiedeeisernen Tores zusammen. Frei verengte leicht die Augen. Wahrscheinlich gab es irgendwo noch einen zweiten Eingang. Dieser hier sah nicht so aus, als wäre er in den
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