Unbeugsam
sehen. Der Krieg hatte zu massiver Lebensmittel- und Warenknappheit geführt, vor Märkten und Restaurants waren Rollläden heruntergelassen. Die Zivilisten, die auf den Straßen unterwegs waren, waren schmutzig und trugen abgerissene Kleidung. Jeder wusste, dass die Amerikaner kamen, und die Stadt schien den Atem anzuhalten. Gruppen von Kindern und Teenagern hoben Schützengräben aus und rissen Gebäude ein, um Brandschneisen zu schaffen.
Louie, der andere Gefangene und der Wachsoldat kamen beim Schlachthaus an, wo die Schubkarre mit Pferdefleisch befüllt wurde. Auf dem Rückweg nach Omori schaute Louie an einem Gebäude hoch und sah ein Graffiti an einer Mauer. 3 Es standen dort die Zeichen
B Niju Ku
. Der erste Buchstabe war einfach zu entziffern, ein schlichtes englisches
B.
Louie wusste, dass
niju
zwanzig und
ku
neun bedeutete; dass das japanische Wort
ku
auch noch eine andere Bedeutung – Schmerz, Unglück, Elend – hatte, war ihm allerdings nicht klar. Louie schob den Schubkarren zurück nach Omori und fragte sich, was »B 29« wohl bedeuten mochte, und warum es so markant an einer Mauer geschrieben stand.
Um zehn vor sechs am Morgen des 1. November 1944 startete ein erstaunliches amerikanisches Flugzeug von der Landebahn von Saipan. Angesichts der Ausmaße dieser Maschine konnte es einem die Sprache verschlagen: 4 Sie |291| war 30 Meter lang, hatte eine Spannweite von 43 Metern, die Höhe im Rumpf betrug über 9 Meter, und sie wog 60 000 Kilogramm oder mehr, wenn sie beladen war. Die berühmte riesige B-24 stellte sie weit in den Schatten. Angetrieben wurde sie von vier Motoren mit je 2200 PS, jeder Motor war also fast doppelt so stark wie diejenigen der B-24; sie konnte mit einer Geschwindigkeit von bis zu 576 Stundenkilometern über den Himmel schießen und immense Bombenladungen transportieren. Eine B-24 hatte kaum eine Chance, den Weg von Saipan auf die japanischen Hauptinseln und wieder zurück zu bewältigen. Dieses Flugzeug hingegen schaffte es: die B-29 Superfortress (»Megafestung«), die Japan in die Knie zwingen sollte.
Der Bomber, der bald den Namen
Tokyo Rose
erhalten sollte – eine ironische Verneigung vor den Frauen, die als Sprecherinnen für die japanischen Propagandasendungen tätig waren –, wurde von Kapitän Ralph Steakley geflogen. 5 An diesem Morgen lenkte er sein Flugzeug in Richtung Norden; in fast 10 Kilometern Höhe brauste es dahin. Der Himmel war tief blau, und darunter kam am Horizont allmählich Japan in Sicht.
Ein paar wenige Male waren B-29-Bomber bereits über Japan zum Einsatz gekommen; diese Vorstöße, mit denen man viereinhalb Monate zuvor begonnen hatte, waren von China ausgegangen, aufgrund der riesigen Entfernungen zwischen den dortigen Stützpunkten und Japan waren sie allerdings nicht sonderlich effektiv gewesen. 6 Aber bei den Japanern lösten die schnellen Giganten helles Entsetzen aus, was auch das Graffito zum Ausdruck brachte, das Louie ins Auge gefallen war. Drei Wochen nach dem ersten Einsatz von China aus war Saipan eingenommen worden, woraufhin die Amerikaner den Start- und Landeort für die B-29 dorthin verlegten. Steakley flog den ersten Einsatz von Saipan nach Tokio; dort war seit dem Doolittle-Raid kein amerikanisches Flugzeug mehr aufgetaucht. Er transportierte in seiner B-29 allerdings keine Bomben, sondern Kameras: Steakley erkundete lediglich die Strecke für die Maschinen, die nach ihm kommen sollten. Um die Mittagszeit kam das Flugzeug im Luftraum über der Stadt an.
Louie hielt sich mit anderen Gefangenen zusammen auf dem Hof auf und machte unter Anleitung der Wachen Turnübungen, als die Sirenen anfingen zu heulen. 7 Die Wachen scheuchten die Männer wie gewohnt zurück in die Baracken. Sirenengeheul war nichts Ungewohntes, und bisher war es immer falscher Alarm gewesen, das Heulen löste daher auch nur wenig Interesse aus.
Von der Baracke aus schauten die Männer aus den Fenstern. Irgendetwas war anders; die Wachen starrten in den Himmel, als würden sie, wie Bob |292| Martindale es formulierte, »nach dem Messias Ausschau halten«. Dann wurde am Himmel ein Glitzern sichtbar, ein Finger deutete aufgeregt nach oben, und plötzlich drängten sich haufenweise Amerikaner durch die Tür. Louie rannte mit den anderen auf den Hof, das Gesicht nach oben gewandt, und sah einen strahlend weißen Schimmer am Himmel über Tokio und die Kondensstreifen, die sich dahinter bildeten. »Mein Gott, ein amerikanisches Flugzeug!«, rief
Weitere Kostenlose Bücher