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Unbeugsam

Unbeugsam

Titel: Unbeugsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Hillenbrand
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irgendjemand. Die Wachen wechselten besorgte Blicke. Martindale hörte, wie sie aufgeregt miteinander sprachen. Eine Wendung stach deutlich heraus:
»B niju ku.«
    Louie hatte ebenso wie die anderen Gefangenen keine Ahnung, von was für einem Flugzeug da die Rede war. Dann klärte ein neu eingetroffener Kriegsgefangener sie auf, dass es sich um einen neuen amerikanischen Bomber handle, der den Namen B-29 hatte. Die Männer riefen laut: »B-29! B-29!«, und allgemeiner Jubel brach aus.
    Auf der anderen Seite der Bucht stand die Zivilbevölkerung von Tokio scharenweise in den Straßen und schaute in den Himmel. Als das Flugzeug in Sichtweite der Menschen kam, hörte Frank Tinker sie rufen, dann steigerten sich ihre Rufe zu lautem Geschrei. Louie warf einen kurzen Blick zum Südende des Lagers. Der Bird stand vor seinem Büro, bewegungslos und ohne eine Miene zu verziehen, und beobachtete das Flugzeug.
    Martindale schrieb: »Es war nicht ihr Messias. Es war unserer.« 8
     
    Ungehindert zog der Bomber seine Bahn. Steakley flog ein paar Mal über der Stadt hin und her, und die Männer der Besatzung schossen ihre Bilder. Unten im Lager machten sich die Wachen an die Verfolgung der hochgestimmten Gefangenen und versuchten, sie in die Baracken zurückzutreiben. Die Männer ermahnten sich gegenseitig zur Ruhe; sie mussten befürchten, für ihre Feierstimmung verprügelt zu werden. Der Lärm legte sich. Louie stand mit den anderen Männern zusammen und hielt Ausschau nach dem Bomber; hin und wieder zogen sie sich in die Durchgänge zwischen den Baracken zurück, um den Wachen zu entgehen.
    Steakley setzte seinen Erkundungsflug über Tokio noch über eine Stunde lang fort. Er wurde weder von japanischen Flugzeugen noch von japanischen Abwehrgeschützen angegriffen. Erst als er endgültig wieder Kurs auf Saipan nahm, heftete sich eine Zero an sein Heck, folgte ihm eine kleine Weile und machte dann wieder kehrt.
    Es war in Omori vergleichsweise einfach, an Zeitungen zu kommen. 9 Die auswärts eingesetzten Arbeiter schmuggelten sie ins Lager; Milton McMullen etwa gab täglich an seinem Arbeitsplatz einem koreanischen Lastwagenfahrer |293| einen Beutel gestohlenen Reis im Austausch gegen eine kleine englischsprachige Zeitung, die er dann in seinem Stiefel ins Lager schmuggelte. Für die Kriegsgefangenen waren die Zeitungen ein Quell immer neuen Amusements. Die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz Europa wurden einigermaßen korrekt wiedergegeben, aber die Berichte über den Fortgang des Pazifik-Kriegs waren teilweise geradezu grotesk tendenziös. 10 Louie stieß einmal auf eine Reportage über einen japanischen Piloten, dem während eines Luftkampfs in einer direkten Konfrontation mit einem amerikanischen Bomber die Munition ausgegangen war und der das gegnerische Flugzeug daraufhin unter Einsatz eines Reisballs als Geschoss zum Absturz brachte. 11
    Die Schlagzeile am Tag nach dem Überflug der B-29 ging in eine ähnliche Richtung. Ernest Norquist schrieb in sein Tagebuch: »In der Zeitung steht ›Vereinzelte feindliche B-29 im Luftraum über Tokio gesichtet‹. 12 Es heißt, sie sei von den Marianen gestartet, über die Stadt geflogen und ›verjagt worden‹, ohne dass sie eine einzige Bombe habe abwerfen können. Ich musste lachen, als ich den Ausdruck ›verjagt‹ las, denn weder Luftabwehrfeuer noch Zeros waren auch nur in die Nähe dieses fantastischen, großen, wunderschönen Vogels gekommen.« Louie war auf eine andere Schlagzeile gestoßen, die verkündete, der Bomber habe »BESTÜRZT DAS WEITE GESUCHT«. 13
    Das Flugzeug hatte einfach nur über Tokio seine Runden geflogen, doch jeder in Japan, die Freien wie die Gefangenen, wussten, was das zu bedeuten hatte. Jeden Morgen mussten die Kriegsgefangenen im Lager von Omori sich zum Appell aufstellen und jeweils laut ihre Nummer auf Japanisch sagen. Nach dem 1. November 1944 jubilierte der Mann mit der Nummer 29 sein
»Niju ku!«
jedes Mal mit inbrünstiger Begeisterung. 14 Wade berichtete: »Nicht einmal Bajonettstöße konnten seitdem das Lächeln auf den Gesichtern der Kriegsgefangenen zum Verschwinden bringen.«
     
    Louie lächelte allerdings nicht lange. Die B-29 und all das, was ihr Auftauchen implizierte, goss Öl ins Feuer von Watanabes Boshaftigkeit. Eines Tages saß Louie in seiner Baracke mit einigen Freunden zusammen; sie hielten sich im hinteren Teil des Gebäudes auf, vorsichtshalber außer Sichtweite der Eingangstür, für den Fall, dass der Bird hereinkommen

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