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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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die wahllos im Zimmer verstreut lagen und mir andeuteten, wie eilig die beiden es gehabt hatten. Ich erinnere mich an den ersten Moment des Begreifens, an den angehaltenen Atem von drei Männern, an den Augenblick, in dem die Zeit stillzustehen scheint, bevor sich die Ereignisse überschlagen und wie im Zeitraffer fortbewegen. Ich erinnere mich an meine haltlose, kalte Wut, an Lars’ verschämtes Grinsen und an das bleiche Gesicht von Finn. Ich erinnere mich an seine Augen, die sich nicht trauten, mich anzusehen und um Verzeihung zu bitten, und ich erinnere mich an die unerträgliche Erkenntnis, von nun an jedes Mal, wenn ich Lars begegne, das Bild der beiden in meinem Bett vor Augen zu haben. Ich erinnere mich an Lars’ Versuch, das Ganze als billige Nummer abzutun, und daran, dass sich mein Zorn merkwürdigerweise trotzdem nicht auf Lars bezog, weil für ihn Sex und Gefühle schon immer zwei verschiedene Dinge waren. Ich erinnere mich an Finns Versuch, mich zu berühren, und ich erinnere mich an die Verachtung, die ich bei seiner Berührung empfand. Und ich erinnere mich an das groteske Triumphgefühl, dass sich meine schlimmsten Befürchtungen und meine niedrigsten Erwartungen endlich bestätigt hatten – als hätte ich einen Sieg über Finns Absichten gewonnen, mich eines Besseren zu belehren.
    Was mir aber am lebhaftesten im Gedächtnis ist, das ist Finns entsetzter und schockierter Blick, als ich mit einem einzigen Satz meine ganze Verachtung für ihn aussprach; einen Satz, der weit über jedes vernünftige Maß an Zorn und Enttäuschung hinausging und mit dem ich Finn und das, was ich für ihn empfand, für immer vernichtete.
    „Du – ich – du weißt jetzt alles?“ stottere ich und fühle mich auf einmal sehr unwohl in meiner Haut. Innerlich mache ich mich darauf gefasst, von Rafael heruntergeputzt, vielleicht fallen gelassen und bis in alle Ewigkeit verdammt zu werden, denn ich habe etwas Unverzeihliches getan: Ich habe Finn den Tod gewünscht, wollte sein Leben ausgelöscht sehen. Wenn ich den Mumm gehabt hätte, hätte ich es vielleicht sogar selber getan. So tief ging mein Hass. Was kann Rafael anderes tun, als mich zu verurteilen? Er als Engel kann die moralischen Abgründe, in die sich Menschen manchmal stürzen, sicherlich nicht verstehen. Deshalb wollte ich diese letzte Wahrheit ja auch unbedingt verheimlichen.
    Aber alles, was Rafael sagt, ist: „Ja.“
    „Und?“ frage ich nervös. Ich kann spüren, wie enttäuscht er von mir ist.
    „Hast du es ernst gemeint?“ fragt er schließlich.
    „Ja … nein … ich war wütend, als ich es gesagt habe“, versuche ich mich herauszureden. Aber dann denke ich schuldbewusst an meine Träume, in denen ich Finn wieder und wieder umgebracht habe, und die kleinliche, trotzige Befriedigung, die ich dabei empfand. „Ich weiß es nicht“, gebe ich schließlich kleinlaut zu.
    Rafael wirft mir einen prüfenden Blick zu. „Sieht aus, als hättest auch du etwas, worum du um Verzeihung bitten musst.“ Trotz der leicht dahin gesagten Worte macht er keinen Scherz. Rafaels entschlossene, keinen Widerspruch duldende Miene verrät, wie ernst es ihm damit ist. Der etwas verantwortungslose, zum Chaos neigende Schutzengel ist verschwunden und an seine Stelle ist ein Erzengel getreten, der nicht zulässt, dass man sich seinem Willen widersetzt.
    „Niemals!“ erwidere ich trotzdem aufbrausend. „Wenn du glaubst, ich rutsche vor ihm auf den Knien herum, hast du dich geschnitten!“
    Rafael lacht leise auf. „Was bist du nur für ein Feigling, Marco! Es ist Zeit, deine Fehler Finn gegenüber einzugestehen und ihm seine zu verzeihen – sonst werdet ihr niemals von vorne anfangen können.“
    „Von vorne anfangen?“ Ich starre Rafael wie vom Donner gerührt an. Plötzlich beginnt es in meinem Gehirn zu arbeiten – wie bei einem Uhrwerk, dessen Feinmechanik nur ein wenig Öl gefehlt hat. In meinem Kopf beginnen sich Andeutungen zu klaren Aussagen zusammenzufügen, vage Vermutungen verfestigen sich zu eindeutigen Bildern und auf einmal erkenne ich Rafaels Plan und begreife, wie wenig ich seine Absichten bisher begriffen habe, wie naiv ich gewesen bin.
    Natürlich war ich nicht so dumm zu glauben, Rafael wolle einfach so ein paar Tage mit mir ins Blaue fahren. Jede Station unserer gemeinsamen Reise, unseres kleinen „Urlaubs“, hatte einen bestimmten Zweck; schon der erste Halt bei meiner Schwester hat mir das klar gemacht. Sie sollten mir zeigen, welche Dummheiten

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