Und dann der Himmel
zögernd geht er darauf zu und nimmt es in die Hand. Als er über den kalten, schwarzen Lauf streicht, geht ein Zittern durch seinen Körper. Er stellt das Gewehr wieder in die Ecke, greift nach der Kiste und rennt schnell die Treppe hinauf.
Rafael reicht ihm eine Tasse dampfend heißen Tees. Es ist nur ein billiger Darjeeling aus Teebeuteln, mehr haben die geschrumpften Vorräte in Finns Küche nicht hergegeben. Immerhin, der Tee vertreibt die Kälte aus ihren Gliedern. Rafael zündet ein paar Teelichter an, die er in einer Schublade aufgetrieben hat, und lümmelt sich wohlig auf den Kissen, die auf dem Boden liegen. Dann wartet er geduldig.
Eine Weile durchwühlt Finn wortlos die Kiste mit den Christbaumkugeln und den Holzäpfeln. Von ganz unten zerrt er eine Lichterkette heraus, breitet sie auf dem Teppich aus und beginnt, die verhedderten Kabel zu entwirren.
„Ich habe gedacht, dass nach dem Vorfall mit Carl, nach unserer Versöhnung, wieder alles in Ordnung wäre“, sagt er plötzlich. „Aber ich habe nicht damit gerechnet, wie nachtragend Marco sein kann.“ Er lacht verbittert auf. „Was für ein Arschloch!“ sagt er. „Äußerlich lief alles wie immer: Wir sind auf Partys gegangen, ins Kino, waren mit seinen Freunden essen, haben Ausflüge gemacht, aber dabei hat er mich ständig beobachtet. Als würde er nur darauf warten, dass meine Finger über die Haut eines anderen streichen. Als würde er darauf warten, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu sehen, um sich dann rechthaberisch auf die Schulter zu klopfen. Ich habe seine misstrauischen Blicke im Rücken gespürt, wenn ich mich mit jemandem unterhalten habe; er hat auf die Uhr geschaut, wenn ich irgendwo aufs Klo gegangen bin, und wenn ich einen anderen Mann nur angelächelt habe, hat er mir eine Szene gemacht. Und immer wieder hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, als wollte er mich geradezu ermuntern, einen Fehltritt zu begehen, nur damit er Recht behalten konnte.
Ich habe ihm gesagt, er hätte keinen Grund, eifersüchtig zu sein, und wenn er sich dazu entschließen könnte, mehr Zeit mit mir allein zu verbringen, nur wir beide, er und ich, dann würde er das vielleicht auch begreifen, aber das wollte er nicht. Ich glaube, er konnte sich nicht eingestehen, dass er bei Carl überreagiert hatte. Ich meine, es ist doch nicht mehr passiert als ein harmloser Kuss, oder?“ Finn drapiert die Lichterkette mit ärgerlichen Bewegungen um den Baum und die Zweige wippen heftig auf und nieder.
„Aber sein Kontrollverhalten war noch nicht mal das Schlimmste. Obwohl das nicht zusammenpasst, begann er gleichzeitig, mich links liegen zu lassen. Zu Anfang unserer Beziehung haben wir einmal täglich, manchmal zweimal telefoniert, dann meldete er sich nur noch alle paar Tage und danach war ich derjenige, der anrief. Wenn wir uns am Wochenende gesehen haben, dann nur, wenn ich nach Köln gefahren bin, zu mir ist er nicht mehr gekommen. War ich bei ihm, hat er oft so getan, als wäre ich ein lästiges Anhängsel. In den Kneipen ließ er mich stehen, während er sich mit seinen Freunden und Bekannten unterhielt, und tat, als wäre ihm meine Anwesenheit egal. Aber wehe, wenn ich mich vom Fleck bewegte! Dann bekam ich direkt wieder zu hören, ich sei nicht besser als alle anderen Männer, mit denen er zu tun gehabt hätte. Ich kam mir vor, als befände ich mich in einer Art Probezeit, die er je nach Gutdünken verlängerte und bei der jeder Schritt, jeder noch so kleine Fehler dazu führen könnte, dass er mir fristlos die Freundschaft kündigte.
Zum Schluss gab es nichts, was ich ihm noch recht machen konnte. Es war, als hätte er einen Schutzwall um sich herum aufgebaut, eine Mauer, an der all meine Versuche, unsere alte Nähe wiederherzustellen, abprallten. Nur manchmal, in ganz seltenen Augenblicken, ließ er eine Zugbrücke herunter, vor allen Dingen nachts, kurz vor dem Einschlafen, wenn er sich an mich gekuschelt hat. Und ich habe mir dann eingebildet, dass er mich trotz allem braucht, und gehofft, dass alles irgendwann auch wieder besser wird.“ Finn hat sich in Rage geredet und Rafael springt auf und nimmt ihm die Christbaumkugeln aus der Hand, weil Finns Finger zittern und der Engel Angst hat, die Kugeln könnten zu Bruch gehen.
„Manchmal ist die Liebe wie ein Nebel. Je enger sie dich umschließt, desto weniger siehst du“, sagt Rafael vorsichtig.
„Ja“, erwidert Finn leise und wischt sich ein paar ungewollte Tränen aus den Augen,
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