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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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gefühlt. Aber da war auch so ein triumphierender Ausdruck in seinem Gesicht – als ob er nur darauf gewartet hätte, endlich einen Grund zu finden, mich loszuwerden. Als ob er mich nie geliebt hätte. Erst als Lars weg war und wir allein im Raum waren, hat er zwei kurze Sätze gesagt: ‚Mach, dass du rauskommst. Ich wünschte, du wärst tot!‘ Danach hat er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, den Computer angeschaltet und mir den Rücken zugedreht, bis ich mich angezogen hatte und die Zimmertür hinter mir zufiel.“
    Finn seufzt am Ende seiner Geschichte tief auf und wiederholt dann Marcos Worte: „‚Ich wünschte, du wärst tot.‘“ Seine Stimme klingt erschöpft und bitter.

7. Himmelfahrt
    Rafael tippt mir sachte auf die Schulter und ich quäle mich aus dem Schlaf wieder zurück in die Realität. Erstaunlicherweise ist diesmal nichts von meinen Träumen in meinem Gedächtnis haften geblieben. Habe ich vielleicht gar nicht geträumt? Habe ich dieses eine Mal Rafael keine Hinweise gegeben? Ich wage kaum zu hoffen, dass ich noch einmal davon gekommen bin.
    „Lass mich in Ruhe“, sage ich mit geschlossenen Augen. „Ich bin noch müde.“ Mein Nacken schmerzt und mein linker Arm fühlt sich taub an. Kein Wunder, wenn man zusammengekrümmt auf dem Beifahrersitz schlafen muss. Ich habe das ziellose Herumfahren satt und sehne mich nach einem richtigen Bett.
    „Nein, Marco“, höre ich die Stimme des Engels neben mir, sanft, aber bestimmt. „Jetzt ist noch nicht die Zeit zum Ausruhen.“
    Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, strecke meine Arme und Beine, so gut es geht, gähne herzhaft und versuche, wach zu werden. Ein bisschen Wasser ins Gesicht wäre jetzt nicht schlecht, aber wir haben noch nicht mal ein Erfrischungstuch an Bord.
    Wir sind noch immer unterwegs, allerdings nicht mehr auf der Autobahn, sondern auf einer schmalen, wenig befahrenen Nebenstraße, die sich in weiten Kurven immer höher hinauf ins Gebirge windet. Etwas desorientiert schaue ich aus dem Seitenfenster und versuche herauszufinden, wo wir sind. Die Landschaft hat sich erneut verändert. Die Berge sind höher geworden, ihre schneebedeckten Hänge und Gipfel sind jetzt zum Greifen nah und für einen Moment habe ich den unwirklichen Eindruck, als wären nicht wir zu ihnen gefahren, sondern die Berge zu uns gekommen, in einem unbeobachteten Moment an uns herangeschlichen. Wie in einem Märchen, in dem leblose Dinge plötzlich zum Leben erwachen, zweifelhafte und meist düstere Absichten verfolgen und den Helden der Geschichte bedrohen.
    Einsam ist es um uns herum. Nur ein paar verstreut liegende Höfe und deren Satellitenschüsseln erinnern daran, dass wir die Zivilisation nicht hinter uns gelassen haben. Den Rand der Straße säumen dunkle Kiefernwälder, die unerwartet von steilen Abhängen durchschnitten werden und den Blick auf Täler frei geben. Alles ist tief verschneit, Eiszapfen klammern sich an die sporadisch auftauchenden Verkehrsschilder und Strommasten. Die Baumwipfel tragen eine zentimeterdicke weiße Last und auf dem Boden hat sich über ein halber Meter Neuschnee festgesetzt. Stille liegt über den Feldern wie ein stickiges Tuch. Ich kenne diese Gegend. Dies hier ist Finn-Land, trügerisch, schweigsam und eigenwillig.
    Der Tag wird dunkler, versprengt in der zunehmenden Dämmerung flackern helle Punkte auf, tanzen vor meinen Augen hin und her wie Irrlichter, bis ich bemerke, dass mir meine Müdigkeit einen Streich gespielt hat. Die Lichter kommen aus den wenigen Häusern, die in der Ferne auszumachen sind, und nur unsere eigene Bewegung gaukelt mir vor, dass sie ihre Positionen verändern. Ich sehe auf die Uhr und stelle überrascht fest, dass es schon Nachmittag ist.
    „Wie lange habe ich geschlafen?“ frage ich in gedämpftem Ton, um den Rest meiner Familie nicht aufzuwecken.
    „Fast drei Stunden.“
    Die Fahrbahn ist nur schlecht vom Schnee geräumt und nicht gestreut worden. Rafael drosselt die Geschwindigkeit, bis wir uns im Schneckentempo vorwärts bewegen. Lars hat dem Wagen keine Winterreifen aufgezogen.
    „So lange?“ sage ich.
    Rafael nickt. „Und du hast geschnarcht“, bemerkt er grinsend.
    „Ich schnarche nie!“ erwidere ich empört.
    „Wie ein Holzfäller!“ sagt Rafael. Der Satz wirkt wie ein Stichwort, das der Souffleur einem Schauspieler zuflüstert. Schlagartig erinnere ich mich an meinen Traum.
    Ich sehe es plötzlich wieder vor mir: das Bett mit den zerwühlten Laken, die Kleidungsstücke,

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