Und das Glück ist anderswo
er jünger aus als seit Monaten und sehr entspannt, sogar gut gelaunt. »Ich habe mich bereits entschlossen hinzufahren«, erklärte er. Seine Munterkeit war ihm peinlich. Er schwankte kurz, ob er Martha erklären sollte, wie gut einem alten Mann das Gefühl tat, gebraucht zu werden, doch er hatte zu oft erlebt, dass Frauen und Männer sich nicht über die Anforderungen einigen konnten, die das Leben stellte. »Ich will sehen«, fuhr er fort und versuchte, seine Hochstimmung zu dämpfen, »dass ich heute noch wegkomme. Gib mir wenigstens zwei Tage Vorsprung, ehe du Emil und Liesel in Aufruhr versetzt. Falls du es nicht gemerkt hast, Martha, unser Bobbelche hat vergessen, die Adresse anzugeben.«
Er erschrak, als er merkte, dass er einen Ausdruck seiner hessischen Heimatsprache benutzt hatte. Das Wort hatte wohl jahrzehntelang in seinem Gedächtnis geschlummert. Oder war es sein Herz, das den Klang der Kindheit und der alten Zeiten nicht freigab? »Bobbelche«, sagte er verlegen, »haben wir daheim zu den kleinen Kindern gesagt.« »Ich hab’s mir gedacht«, lächelte sie. »So was passiert mir auch, wenn ich aufgeregt bin.«
»Ich bin nicht aufgeregt. Ich bin ganz ruhig. Seelenruhig und reisefertig. Hilfst du mir beim Packen? Für die zwei Tage, die ich weg bin, werde ich meinen Smoking wohl nicht brauchen.«
Samy hatte erwartet, Martha würde ihm Schwierigkeiten machen. Keinen Moment hatte er bezweifelt, dass sie alles tun würde, ihn von seinen Reiseplänen abzubringen - aus Besorgnis um seine Gesundheit und zum Wohl seiner Nerven und erst recht, weil sie ganz gewaltige Vorwürfe von Liesel und Emil zu befürchten hatte. Eltern die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst um das Wohl ihres in Not geratenen Kindes zu kümmern, galt bei Marthas gestrenger Tochter mit den fest umrissenen Prinzipien gewiss nicht als eine verzeihliche Sünde. Wort für Wort hatte sich Samy Marthas Einwendungen ausgemalt, Rede und Gegenrede geprobt und Argumente ins theoretische Feld geführt, die ihm selbst im besten Fall originell, aber kaum nachvollziehbar erschienen.
»Wie kommst du auf zwei Tage?«, fragte Martha. »So lange brauchst du doch allein für die Reise.«
»Nach Nizza kann man fliegen. Das haben sie Emil, David und mir damals gesagt, als wir herauszubekommen versuchten, wo und was das verfluchte Negresco ist und wie man da hinkommt.«
Sie machte einen letzten, sehr schwachen, noch nicht einmal sie selbst überzeugenden Versuch, den Reisenden aufzuhalten. »Samy, sei vernünftig. Benutz doch einmal im Leben deinen Dickschädel zum Denken. Du kannst kein Wort Französisch. Wie willst du da Rose finden? Nizza ist doch kein Dorf. Und du, mein Lieber, bist nicht mehr jung genug für so ein Abenteuer.«
»Sag das nie wieder. Ein Mann ist in jedem Alter jung genug für ein Abenteuer. Und natürlich kann ich Französisch. Je t’aime, Madame. Und wie ich dich aime! Gell, da staunst du, mein Mädchen. Ich war nämlich während meiner Ausbildung ein Jahr lang im Elsass. Na, sagen wir gut neun Monate.«
»Spricht man denn dort Französisch, oder schwindelst du mich ein ganz kleines bisschen an?«
»Ich glaube, sie glauben nur, dass sie Französisch sprechen, aber für mich hat es gereicht. Choucroute und Charcuterie, und ein Huhn ist ein Gickel. Und angeschwindelt habe ich dich noch nie. Eine Frau wie dich kann man gar nicht anschwindeln. Sieh zu, dass Mieze nichts ausplaudert. Sie hat ja die Nazis nicht erlebt und weiß nicht, dass man bei Reisen nicht von seinen Plänen sprechen darf, wenn man lebend ans Ziel kommen will.«
Von dem Moment an, da Samy am Picadilly Circus aus der U-Bahn stieg, war ihm das Glück gewogen. Auf Anhieb fand er das Reisebüro wieder, in das er geraten war, um sich nach dem Eintreffen von Rose’ dritter Postkarte über Nizza und das Negresco zu erkundigen. Samy richtete es so ein, dass nicht ein hustender Angestellter mit beginnender Glatze und trüben Augen sich um ihn kümmerte, sondern ein junges Mädchen in einem marineblauen Kostüm und maisgelber Bluse. Sie hatte eine Stupsnase, Grübchen am Kinn, ein Teint wie Schneewittchen und seit ihrer im Waisenhaus verbrachten Kindheit einen Großvaterkomplex. Laut dem Namensschild über ihrer Brust hieß sie Sylvia Darlington. Weil aber eine lange, entzückend wippende goldbraune Locke die Hälfte des Schildes verdeckte, redete sie Samy als »Miss Darling« an. Ihr Jubel nahm kein Ende und war so ansteckend wie ein Schnupfen im November. »Nennen Sie
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