Und das Glück ist anderswo
zu rekapitulieren, was er je über schwangere Frauen gewusst hatte, doch noch ehe die Maschine ihre volle Flughöhe erreicht hatte und der Schmerz in den Ohren nachließ, begriff er, dass die Geburten seiner Kinder zu lange her waren, um als brauchbare Informationsquelle für die Zukunft mit Rose zu dienen. Samy erinnerte sich nur an einen blauen Eimer voller Windeln im Badezimmer und an eine schluchzende Mutter, die nachts um drei ein brüllendes Bündel Baby durch die Wohnung getragen hatte. Immerhin funktionierte sein Gedächtnis noch so gut, dass es beide Erlebnisse in die Zeit nach der Geburt einordnen konnte. »Rose«, seufzte er.
»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich die Dralle mit dem Mondstein, »soll ich die Stewardess rufen? Ich hab das auch oft beim Fliegen.«
»Bitte nicht«, bat er entsetzt.
Bei der Auswahl der ihm angebotenen Drinks deutete Samy mit einer Geste, die ihm recht weltmännisch erschien, auf eine kleine Flasche in dem silbernen Servierwagen. Er hielt das Getränk für roten Traubensaft. Der hatte bei seiner Mutter ausschließlich an Feiertagen auf dem Tisch gestanden und erschien ihm immer noch als eine besondere Kostbarkeit, doch schon beim ersten Schluck erkannte er seinen eklatanten Irrtum. Weil Samy aber zu gehemmt war, einen Umtausch zu erbitten, und die Frau im grünen Turban ihn immer noch anstarrte und weil er zudem Durst hatte, trank er den Viertelliter Bordeaux im gleichen Tempo wie Menschen, die ihr Leben lang ihren Durst mit Wein zu löschen pflegen. Dazu aß er, mit gutem Appetit, eine überbackene Jakobsmuschel, die er im unberührten Zustand für die französische Variante eines Spiegeleis gehalten hatte. Als er mit dem überreifen Camembert fertig war, gegen den sein Magen noch drei Tage später protestierte, beschloss er, seine Reiseerlebnisse für Martha aufzuschreiben. Weiter als bis zum Titel seiner Chronik - »Die wundersamen Wanderungen des Samuel
Bronstein« - kam er allerdings nicht. Vor der Landung in Nizza weckte ihn die Stewardess. Durch heftiges Rütteln an ebenjener Schulter, die Darling mit einem zärtlichen Klaps bedacht hatte. Es schien ihm Äonen her. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er England als seine Heimat.
Der ungewohnte Weingenuss und die Jakobsmuschel wirkten noch dämpfend, als Samy mit steifen Gelenken und einem Kopf, der ihm zu groß und zu schwer für seine Schultern erschien, in der Ankunftshalle stand. Er dachte an Begebenheiten, an die er nie mehr in seinem Leben hatte denken wollen, und stolperte über eine Reisetasche. Ein junger Mann fing ihn auf und sagte etwas, das der Gestrauchelte als das französische Pendant zu »Hoppla, Opa!« einordnete. In seiner Hand hielt er eine Tüte mit zwei Hühnersandwiches und zwei Bananen, die ihm Martha als Notproviant aufgedrängt hatte und die er in einem fremden Land nicht in den Papierkorb zu werfen wagte. Sein Koffer tauchte als letzter auf dem Band auf, zeitgleich mit einem verschwitzten Mann, der als einziges verständliches Wort »Taxi« bellte, den Koffer ergriff und mit einer kräftigen Linken Samy vor sich herschob, ehe der überhaupt eine Chance hatte, zu überlegen, ob er seinem Reisebudget abermals eine Taxifahrt zumuten dürfte.
Auf der Fahrt entlang dem Meer sagte Samy dreimal »Negresco«. Der Taxifahrer gab jedes Mal einen Laut von sich, der für Samy wie Eselsgeschrei klang. Da sich jedoch der ungewöhnliche Fahrgast kein anderes Ziel entlocken ließ, lieferte der Fahrer ihn vor dem Hotel ab und war verblüfft, dass er tatsächlich ausstieg und ohne zu murren die zweifach überhöhte Gebühr bezahlte. So schnell war noch nie ein Taxifahrer vom Negresco abgefahren. Das Empfangspersonal notierte die Autonummer. »Für alle Fälle«, sagte der jüngste Page.
Von diesem Zeitpunkt an gerieten die Bilder so durcheinander, dass Samy sie auch nach Wochen nicht auseinander halten konnte. Der erste Blick auf den Hotelpalast mit Palmen davor und Dienern im historischen Gewand und mit Lanzen in der Hand, hatte gereicht, um dem Reisenden Samuel Bronstein, geboren in Offenbach und wohnhaft in Golders Green, klar zu machen, dass im Negresco nicht mit Gästen seines Stands gerechnet wurde. Weil er aber außer der Postkarte von Rose mit dem Hinweis auf einen Mann namens Pascal und das Hotel keinen anderen Anhaltspunkt hatte, um mit seiner Suche zu beginnen, mochte er nicht sofort weiterziehen. Schwerfällig ging er in die Richtung der Empfangshalle.
Ein Page mit Goldborte auf einer
Weitere Kostenlose Bücher