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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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weder als eine Dummheit noch als ein Fehler. Und schon gar nicht als ein Unglück. Bei ihnen verdreifacht sich die Freude bei jedem Kind.«
    Im Nachhinein wunderten sich nicht nur Liesel und Emil, dass sie nie erwogen hatten, Rose könnte ihre Eltern zu den jüngsten Großeltern im gesamten Freundeskreis machen. Selbst als Samy auf der Bank vor seinem Häuschen saß und mit Herzklopfen und Schweißausbrüchen den Brief aus Nizza zum dritten Mal las und jedes Wort nach jeder möglichen Seite zu deuten versuchte, war er außerstande sich vorzustellen, weshalb Rose auf die Passform ihrer Jeans hingewiesen hatte. Der Schicksalsbrief war angekommen, kaum dass Martha das Haus verlassen hatte, um die vergessenen Karotten zu kaufen. Nicht nur die Zustellung morgens um zehn war ein Zufall. Dass Samy den Briefboten kommen sah, war es erst recht, denn auch im Alter hatte er nicht die Gewohnheit entwickelt, stundenlang zum Fenster heraus zu stieren, um sich hinter dem Schutz der eigenen Gardinen von fremden Leben zu nähren. Mieze, die sich an jedem anderen Tag erst nachmittags Gedanken um ihre Verdauung machte, hatte ihm aber unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie erstens in den kleinen Vorgarten gehen wollte und zweitens, dass die Angelegenheit dringlich wäre. »Wir waren eben beide ein wenig unruhig«, beschrieb Samy eine Stunde später die Lage.
    Er hatte, ehe er den Brief öffnete, den grauen Umschlag sehr genau betrachtet. Die Marken gefielen ihm. Er hatte schon als Achtjähriger Briefmarken gesammelt und in seiner Jugend bereits mit Methode, aber für den Bestand einer Briefmarkensammlung war eine überstürzte Flucht aus der Heimat, um das Leben zu retten, nicht förderlich gewesen. Zudem schwelte, als Samy dieser Heimat ein »Lebwohl für immer« zurief, schon damals das Gerücht, der deutsche Zoll würde nur darauf lauern, dass Juden ihre
    Briefmarken ins Ausland zu schmuggeln versuchten, und dann wäre es für immer vorbei mit der Auswanderung. Geblieben war aus diesen fernen und doch nie entschwundenen Tagen die Gewohnheit, sich jede Briefmarke so genau anzuschauen, als wäre sie die Blaue Mauritius.
    Samy war nicht auf der Hut. Ein paar Minuten entging ihm, wohin ihn die französischen Briefmarken entführten. Seine Erinnerungen trieben nach Hause, zu seiner Mutter mit dem roten Suppentopf für das Pichelsteiner Fleisch und zu der dicken Tante mit dem Bembel für den Apfelwein. Als er an den Tod der Seinen in Theresienstadt dachte, brannten Samys Augen. Mutter und Tante waren bald nach ihrer Deportation verhungert, und lange Zeit hatte er Gott dafür gedankt, dass ihnen die Gaskammern von Auschwitz erspart geblieben waren. Er beugte sich, obgleich sein Rücken protestierte, zu Mieze hinunter, streichelte sie und raunte ihr zu: »Sei froh, dass Katzen keine Erinnerungen haben.«
    Als es ihm endlich gelang, die seinigen abzuschütteln, konnte er gar über Rose’ Kinderschrift lächeln. Die Buchstaben sahen aus wie hüpfende kleine Teufel. Erst in diesem Moment seiner Befreiung fiel Samy auf, dass der Brief nicht an Martha adressiert war, sondern an ihn. Trotzdem zögerte er, den Umschlag zu öffnen. Er nahm an, Rose, die ja immer ein wenig schusselig gewesen war, hätte sich geirrt und bestimmt den Brief an ihre Großmutter schicken wollen. Schließlich aber öffnete er das Couvert doch - sorgsam mit seinem Taschenmesser, um es gegebenenfalls wieder so zu verschließen, als wäre der Brief noch ungelesen. Er musste abermals an seine Jugend denken. »Komisch, Samy«, hatte seine Mutter gesagt, »dass immer die Briefe von deiner Schule so schlampig zugeklebt sind.«
    »Ich wollte«, hatte Rose geschrieben, »die Eltern oder
    Gran nicht aufregen, und ich bin sicher, du wirst sie schonend auf alles vorbereiten können. Bestimmt denken sie, dass ich hier glücklich bin und dass ich nur so wenig von mir habe hören lassen, weil ich mich schäme, dass ich so plötzlich von zu Hause fort bin. Doch die Dinge sind ganz, ganz, ganz anders. Leider, leider! Es gibt keinen Mann in meinem Leben mehr, und es wird nie mehr einen geben, den ich liebe. Das schwöre ich dir bei allem, was mir teuer ist.« Trotz ihres Pathos hatte die Briefschreiberin sehr akribisch und absolut schonungslos ihre Lage geschildert, ihre Verzweiflung in einem Land, in dem sie mit niemandem reden konnte, die Schikanen der Madame Versagne und ihre Geldnot. Vor allem hatte sie - mit den Unterstreichungen, Wiederholungen und Ausrufezeichen der

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