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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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sorglosen Tage - sehr klar ausgedrückt, dass sie nach Hause zurückkehren wollte, und zwar auf der Stelle. »Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit. Und ich weiß nicht, wie ich an eine Fahrkarte kommen soll.«
    Als seine eigene Tochter nach ihrem überstürzten Aufbruch um Hilfe gebeten hatte, war Samy noch nicht einmal besonders aufgeregt gewesen, eher befriedigt, dass die lange Zeit der Beunruhigung und seiner erzwungenen Untätigkeit vorbei war und er wieder der Vater sein durfte, der alles verstand und noch mehr verzieh. Rose’ Brief trieb ihm nicht nur um Marthas willen die Tränen in die Augen. Seine Rebekka war, als sie ihr Elternhaus verließ, immerhin eine erwachsene Frau gewesen. Rose erschien ihm wie ein erschrockenes kleines Mädchen, das in den Wald gelaufen war, um Blumen zu pflücken, und sich dort verirrt hatte. »Man dürfte sie nicht aus dem Haus lassen, ehe sie eine Prüfung abgelegt haben, dass sie logisch und objektiv denken können«, murmelte er. »Und nicht durch eigene
    Dummheit zu Schaden kommen werden«, seufzte er nach einer Weile und schloss die Augen. Einen Moment bedauerte er, dass er sich nicht darauf verstand, wie sehr viele seiner Altersgenossen, einfach hinwegzudämmern, wenn das Leben zu kompliziert wurde.
    Als er die Augen wieder aufmachte, sah er Martha. Sie hatte gerade den Briefkasten am Ende der Straße erreicht und wirkte wie ein junges Mädchen, schlank und in einem gelbschwarz geblümten Rock, der sich ein wenig im Wind bauschte und Samy auf sehr angenehme Weise an die Mode seiner Jugend erinnerte. Seine Mutter hatte sich immer einen Rock aus rotem Taft gewünscht, der im Wind raschelte wie die Robe einer Kaiserin, sich aber nur den Stoff gekauft und den Rock nie nähen lassen. Ob sie den roten Taft im Schrank zurückgelassen oder ihn mit nach Theresienstadt genommen hatte?
    Martha schwenkte gut gelaunt das Netz mit den Karotten und der Petersilie, die in der Sonne moosgrün leuchtete. Als sie Samy auf der Bank sitzen sah, lief sie schneller. Sie machte die langen Männerschritte, um die er, der Kurzbeinige, sie immer ein wenig beneidete. »Hallo«, rief sie fröhlich, und weil er nicht sofort antwortete, fügte sie nach der Art von kleinen Kindern, aber doch schon ein wenig verwundert hinzu »Hier bin ich wieder«. Samy zuckte zusammen, und er merkte, dass er zusammengezuckt war. Verlegen schaute er sich um, als müsste er erst feststellen, ob der Zuruf tatsächlich ihm gegolten hätte. Dann sprang er auf, energisch wie ein Mann, der dabei ist, einen Termin von Wichtigkeit zu verpassen, stolperte aber mit dem rechten Fuß über einen größeren Stein, auf dem Mieze ihren Kopf gebettet hatte. So musste er gleichzeitig darauf achten, dass er nicht stürzte, die Katze nicht trat und den
    Brief in seine Hosentasche stopfte, ehe ihn Martha entdeckte.
    Nicht nur in bedrohlichen Lebenslagen, auch in seiner Ehe mit einer misstrauischen Frau war Samy ein Taktiker gewesen. Er hatte die Gewohnheit beibehalten. Es war besser, rechtfertigte er sich vor seinem klügeren Ich, Martha Rose’ deprimierenden Brief in aller Ruhe zu zeigen, wenigstens abzuwarten, bis sie mit ihrem gefilten Fisch fertig war. Viel mehr Zeit, das begriff Samy erst im Moment der aufsteigenden Angst, würde ihm allerdings nicht bleiben. Gab es überhaupt in Golders Green ein Reisebüro? In all den Jahren hatte er keines gebraucht. Die Auswanderung hatte ihm ein für alle Mal das Reisen verleidet. Ein Mann seines Alters gehörte in sein eigenes Bett. Ein Mann mit Katze allemal. Und wie der Familie klar machen, dass sie ohne ihn Sabbat feiern müsste, weil er, der Meisteragent, der große Manager, plötzlich verreisen müsse? So unerwartet und in so dringenden Geschäften, dass er leider bis auf weiteres keine Auskünfte geben könnte. Welches Ziel sollte er angeben? Wäre er nicht so sehr im Würgegriff von Problemen gewesen, von denen er keine Ahnung hatte, wie nur ein einziges von ihnen zu lösen war, hätte Samys gut ausgeprägter Sinn für Situationskomik einen doppelten Salto geschlagen. Die Pointe der absurden Geschichte war ein Meisterwerk der Ironie. Der alte Bronstein, von dem seine Freunde immer noch behaupteten, er wäre ein verdammt gerissener Fuchs, wenn er es darauf anlegte, seinen Dickschädel durchzusetzen, hatte in der Liebe das Lügen verlernt. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die Stirn trocken und war stolz, dass ihm wenigstens diese eine Bewegung gelang, ohne dass Martha etwas

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