Und das Glück ist anderswo
zufrieden, ausgeglichen und fröhlich gewesen war.
Liesel gewöhnte sich an, um die Mittagszeit dem Briefträger entgegenzugehen. Den Weg tarnte sie vor sich selbst und der Familie als den Spaziergang, den ihr der Arzt zur Stabilisierung ihrer Nerven empfohlen hatte. War sie nicht zu Hause, tat es Martha, ohne dass sie darum gebeten wurde. So war es die Großmutter, die als Erste die aufschlussreichste Karte ihrer Enkelin in Händen hielt. Aufgegeben war sie wieder in Nizza, was Rose - zu aller Verblüffung -diesmal dazu animiert hatte, sich an einem Wortspiel zu versuchen. »It’s nice in Nice« hatte sie geschrieben und unter ihren Namen zwanzig dicke Kreuze gemalt, die englische Version für postalisch überwiesene Küsse.
Von der Vorderseite der Karte grüßte ein ernst wirkender Hoteldiener in einem blau-roten Wams mit goldfarbenem Besatz. Er streckte eine Lanze in einen wolkenlosen Himmel und stand vor einem imposanten schwarzen Eisenportal mit vergoldeten Spitzen. Die Kopfbedeckung des Recken stammte aus der Zeit Napoleons. Soweit das Foto Deutungen zuließ, hütete der Mann im zweifarbigen Wams ein Palais aus der Jahrhundertwende. Es hatte eine imposante Kuppel auf einem kompakten kleinen Turm, große Fenster und Balkons mit beeindruckender Brüstung. Zwischen dem Meer und dem riesigen Gebäude verlief eine breite Promenade. Palmen spreizten ihre Blätter vor Laternen mit Kugelköpfen aus Milchglas. Dem Text auf der Rückseite war zu entnehmen, dass es sich bei dem Prachtbau um das Hotel Negresco handelte.
Hätte Rose nicht die beiden Worte Hotel und Negresco in unterschiedlichen Farben unterstrichen und darunter »Hier arbeitet Pascal« gekritzelt, hätten sich wahrscheinlich alle Überlegungen nur auf einen einzigen Punkt konzentriert: Es gab offensichtlich im neuen Leben der unberechenbar Gewordenen einen Mann. Der hatte nicht nur einen in England ungebräuchlichen Namen und, da er ja laut Informantin in einem Arbeitsverhältnis stand, wohl auch keinen reichen Vater, um ein Liebesnest an der französischen Riviera zu finanzieren.
Jeder verhielt sich auf seine Art. Methodisch fahndete Lie-sel nach den Wurzeln und versuchte verbissen, Rose’ Kinderhandschrift weitere Hinweise zu entlocken; in Wehmut verglich Martha die Karte mit ihren Erinnerungen an
Mombasa und hoffte, sie würde allein durch Intuition den passenden Schlüssel zu der abrupt zugeschlagenen Tür finden. Die Männer rüsteten zur Jagd. Emil, David und Samy beschlossen einstimmig und mit neu belebter Kraft, sich um- und eingehend mit Pascals Arbeitgeber zu beschäftigen. Die umfangreichen Nachforschungen führten sowohl in eine Bibliothek und zwei Buchhandlungen als auch in eine Zweigstelle von Cooks. Zwar war diese Niederlassung ausgerechnet auf Reisen nach Südamerika spezialisiert, gab jedoch den entscheidenden Rat, sich an ein französisches Reisebüro zu wenden. Aus dem grell geschminkten Mund einer aufreizenden jungen Frau erfuhren die verblüfften Fahnder, dass es sich bei der Arbeitsstelle des unbekannten Pascal um eines der bekanntesten Grandhotels in Europa handelte. Trotz der Umwege, die nötig gewesen waren, um ans Ziel zu gelangen, hatten die Recherchen nur einen Tag und vier Stunden in Anspruch genommen. Bei Rose dauerte es wesentlich länger, ehe sie auf die Wahrheit stieß.
Die Geschichte war uralt, doch leider kein Märchen, nur die traurige Mär von einem großen Missverständnis. Begonnen hatte es in London. An einem eiskalten Montagabend im November. Der Wetterbericht hatte für die Nachmittagsstunden Glatteis angekündigt, die Zeitungen einen eventuellen Streik der Putzfrauen in den Krankenhäusern, weil sie zwei Tage zuvor mit einer Verkürzung der Elf-Uhr-Teepause bedroht worden waren, und bei der britischen Autoindustrie stand es schlecht um den Export. Wegen der seit vierzehn Tagen herrschenden Erkältungswelle waren Zitrusfrüchte im Preis gestiegen, wurden jedoch dringend von den Ärzten empfohlen.
Es war, auf den Tag genau, ein halbes Jahr nach dem Schul-abschluss einer mittelmäßigen Schülerin, die ihre Eltern immer mehr verunsicherte, weil sie nie vom Heiraten sprach und auch keine anderen Zukunftspläne zu haben schien. Für ihre unmittelbare Zukunft interessierte sich Rose allerdings sehr und ohne dass sie das publik machte. So hatte sie für diesen Abend wissen lassen, sie ginge zu einem Konzert mit Überlänge und würde womöglich sehr spät nach Hause kommen. Dies war der erste Zufall in einer von
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