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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Rose’ Lieblingsdessert zuzubereiten - Crêpes Suzette, die in der Familie Procter aus Anlass von Roses fünftem Geburtstag feierlich in Crêpes Rose umbenannt worden waren. Dass Nostalgie auf dem Dessertteller allerdings noch bitterer schmeckt als im abstrakten Zustand genossen, gab jede Woche erneuten Anlass zur Bestürzung. Keiner der abendlichen Tischrunde aß mehr als den Happen, mit dem der Köchin Dank gezollt wurde. Die glückliche Katze Mieze aber hatte in Samys frisch gestrichener Küche einmal in der Woche eine doppelte Portion Freude. Martha servierte ihr den appetitlichen Gruß aus dem Trauerhaus fein eingewickelt in Butterbrotpapier und jedes Mal mit dem gleichen Tischspruch. »Es ist ja wenigstens noch eine da, die sich von Herzen freuen kann«, pflegte sie der schnurrenden Katze ins Ohr zu flüstern.
    In der fünften Woche nach Rose’ Aufbruch traf eine Karte von einem Strand an der französischen Riviera ein. Abgestempelt war der erlösende Gruß in Nizza und mit dem Text »Für immer eure liebende Tochter« versehen. Mit Bleistift gekritzelt war das Postscriptum »und Schwester«. David schüttelte den Kopf wie ein Mann, aber in den Augen hatte er die Tränen eines Jungen.
    »Das ist gut«, befand Samy, der Kenner. »Man sieht, sie will die Verbindung zu uns aufrechterhalten.«
    »Deine Interpretation wäre noch vielversprechender«, seufzte Emil, »wenn meine Tochter eine Lokomotive wäre.«
    »Du stehst noch ganz am Anfang, mein Lieber. Wenn wir Väter nicht begreifen, dass sich die Welt verändert hat, dann müssen wir uns auf der Stelle einmotten lassen. Früher hat eine Frau schon mal aus Liebe den falschen Mann geheiratet oder weil sie ein bisschen übermütig war oder nicht besonders gescheit. Heutzutage sind die Mädels überzeugt, dass Wahnsinn auch ein Heiratsgrund ist. Leider dauert es meistens keine vier Wochen, bis sie die Eltern für den ganzen Schlamassel verantwortlich machen, und weil sie mit der ganzen Welt beleidigt sind, lassen sie nichts mehr von sich hören. Bei meiner Rebekka hat es damals fast ein Jahr gedauert, ehe ihr einfiel, dass sie auf meine Kosten lesen und schreiben gelernt hat und dass es in England Briefmarken gibt für Leute, die ihren Vater nicht vorzeitig ins Grab bringen wollen. Und schau, wie weit ich heute bin. Ein glücklicher, zufriedener Vater und ein liebevoller Opa, der bereit ist, sich von seinem letzten Hemd zu trennen. Vor zwei Wochen durfte ich meinem Enkel die ersten Schuhe kaufen und meinem unbekannten Herrn Schwiegersohn eine Autoreparatur zahlen. Gott heilt alle Wunden. Manchmal leider ein bisschen langsam.«
    Einen Monat nach dem ersten Lebenszeichen von Rose traf eine zweite Ansichtskarte in London ein. Diesmal zeigte sie die blühenden Lavendelfeldern von Grasse. Unter dem Haupttext war eine unleserliche Unterschrift, die nach Mutmaßungen der Empfänger dem Mann an Rose’ Seite zuzuordnen war. Rose bekundete auch beim zweiten Mal ihre Liebe für die Daheimgebliebenen und kündigte an, dass sie sehr bald einen ausführlichen Bericht plane. Weil auch die zweite Postsendung außer dem wortkargen Liebesbeweis keine persönlichen Informationen enthielt, war man sich einig, dass Rose ihren Aufenthaltsort geheim halten wollte.
    »Wahrscheinlich hat sie bei Scotland Yard angeheuert. Soweit ich mich erinnere, hat sie sich schon als kleines Mädchen in einen Bobby verknallt.« Es war, zwei Monate und eine Woche nach dem Tag der Katastrophe, der erste kleine Scherz, den einer wagte, doch Davids wackerer Versuch, die Stimmung aufzuhellen, wurde kein Erfolg. Keiner der Anwesenden reagierte. Nur ein Hund im Nachbargarten ließ wissen, dass es ihm gut ging.
    Angespannt und von Tag zu Tag in größerer Verzweiflung und mit mehr Gewissensballast lauerte Liesel auf Rose’ angekündigten Bericht. Häufig geriet dabei ihre Gefühlswelt so aus den Fugen, dass sie sich nicht mehr im Klaren war, ob es ihr ausschließlich um Rose’ Wohlergehen ging oder ebenso sehr um die Lösung des Rätsels, das mit einem gewaltigen Blitzschlag das Glück der Familie vernichtet hatte. Weshalb und wohin war ein junges Mädchen verschwunden, das noch nicht mal die paar Pfund abgehoben hatte, die auf ihrem Sparbuch waren? »Und mit wem?«, fügte Emil jedes Mal hinzu, sobald die Rede auf seine Tochter kam. Ihn quälte am meisten, dass sich Rose nie vor Elternzorn oder einem Machtwort hatte fürchten müssen und dass sie mit Ausnahme der letzten Wochen des Zusammenlebens immer

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