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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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in einem unbewohnten Zimmer ein quietschendes Fenster aufgestoßen, Staub gewischt und das königsblaue Kleid einer Puppe zurechtgezupft. Die sah keine Tränen und überhörte alle Seufzer. Stumm und starr saß sie auf einem Thron aus gelben Seidenkissen und hatte ein weißes Blatt Papier an ihre Hand gesteckt.
    Drei Wochen lang, von denen sich alle Betroffenen einig waren, sie hätten länger gewährt als vor dem Vulkanausbruch drei Jahre, lagen nur die üblichen Rechnungen und Zeitungen sowie zweimal Feriengrüße aus Schottland von Golf spielenden Freunden im Briefkasten. Wenn das Telefon schellte, zuckten alle zusammen und spürten einen stechenden Schmerz in der Brust, den sie, je nach Alter, als Muskelkater oder Rheumatismus deuteten. Oder sie beteten mit rasendem Herzen und ohne die Lippen zu bewegen um Erlösung von dem Nachtmahr, wobei ein jeder wähnte, er wäre unbeobachtet.
    »Kann man lernen, sich nicht gehen zu lassen?«, fragte Liesel.
    »Du hast es schon immer gekonnt«, wusste Emil.
    Das Eichhörnchen, das seit seiner frühesten Jugend auf Marthas Nusskuchen gesetzt hatte, musste sich - weil Martha weniger backen mochte als vor dem Desaster - auf die Nüsse in Nachbars Garten konzentrieren. Es wurde nur noch selten in seinem ehemaligen Paradies gesichtet, und wenn, dann fremdelte es und huschte ins Gebüsch.
    Unter einer Linde stand Rose’ Fahrrad. Der Wimpel ihrer alten Pfadfindergruppe, von dem sie sich nie hatte trennen mögen, obgleich sie mit einem unschönen Getöse aus der Gruppe ausgetreten war, war zu feucht, um noch im Winde zu flattern. Das Rad indes sah so aus, als hätte Rose es am Abend zuvor unter den Baum geschoben. Solange sie zu Hause wohnte, hatte ihr Vater fürchterliche Strafen angekündigt, sollte er das Rad unter dem Baum statt in der Garage entdecken. Nun wagte keiner, es zu den alten Reifen und dem übrigen überflüssigen Hausrat zu stellen. Obgleich niemand den Gedanken aussprach, hätte das umrangierte Rad signalisiert, man habe die Hoffnung auf Rose’ Heimkehr endgültig aufgegeben.
    Durch ihre Gastritis nahm Liesel noch einmal fünf Pfund ab. Anders als bei ihrer freiwilligen Diät vor ihrem Geburtstag litt sie dieses Mal jedoch unter Schlaflosigkeit. Ihre Haut war gelblich und ihr Haar ohne Glanz. Emil lehnte es ab, unter Zeugen die Waage zu betreten. Sein Gürtel, in den er ein zusätzliches Loch hatte stanzen lassen, gab seiner Frau ohnehin umfassende Auskunft. Vom Arzt, den er aufsuchte, ohne dass es Liesel oder sein Sohn mitbekamen, ließ er sich die ersten Beruhigungstabletten seines Lebens verschreiben. »Sie helfen nicht gegen die immer gleichen Albträume«, beklagte er sich bei Samy.
    »Gegen immer gleiche Albträume hilft nur der Tod«, wusste Samy.
    David hatte alle Diskussionen mit seiner Mutter eingestellt, die den Rest vom Hausfrieden hätten gefährden können. Sie betrafen erstens seine Absicht, gleichzeitig mit Jura auch Theologie zu studieren, und zweitens seinen großen Wunsch, Mutter und Großmutter würden endlich ihm zuliebe einen koscheren Haushalt führen. Das in einer liberalen Familie nicht zu bewältigende Thema war seit Jahren Anlass zu Debatten gewesen - erst recht, seitdem David die Schule beendet hatte.
    »Du kannst doch nicht von deiner Mutter verlangen, dass sie etwas tut, woran sie nicht glaubt«, hatte Liesel ihrem Sohn vorgehalten.
    »Seit wann ist eine Bitte ein Verlangen?«
    Die Diskussionen waren immer mit Leidenschaft geführt worden, aber stets ohne Zorn. Trotzdem hatte Liesel nach Rose’ Verschwinden ein belastetes Gewissen gegenüber David. In Momenten, da sie Details der Vergangenheit besonders unbarmherzig quälten, stellte sie sich vor, ihr Sohn könnte es eines Tages seiner Schwester gleichtun und im Morgengrauen verschwinden. Je schlimmer solche Angstattacken wurden, desto mehr setzte sie ihre Kräfte ein, David nicht zu reizen. So unterließ sie jeden Hinweis auf den für sie überraschenden Umstand, dass er höchstwahrscheinlich nicht mehr seine gesamte Freizeit mit Rabbi White verbrachte. »Für seine Besuche beim Rabbi hat die Farbe seiner Pullover oder der Schnitt seiner Jeans bisher nie eine Rolle gespielt«, erklärte sie Emil.
    »Bei einem Jungen«, erinnerte sich der Vater, »kommt es viel mehr drauf an, ob er anfängt, sich gründlich zu waschen.« »Das tut er außerdem.« »Auch das noch. Gibt es denn nie mehr Ruhe?«
    Martha ließ sich nicht davon abhalten, jeden Donnerstag, wie in den vergangenen Jahren,

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