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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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schämte sie sich, dass sie es nicht lassen konnte, die Menschen, die sie liebte, wie mathematische Gleichungen zu behandeln und für sie einen gemeinsamen Nenner zu suchen. »Doch«, wiederholte sie, »sehr, sehr liebenswert.«
    Genau in diesem nie mehr zu vergessenden Moment der Selbsterkenntnis und Reue entdeckte Liesel Procter, die kritische Analytikerin, das Blatt Papier mit Rose’ steiler, sich nach Links neigender Schrift. Der beschriebene Bogen zeichnete sich hell vom Rock der Puppe ab; er war aus einem alten Mathematikheft herausgerissen worden, das Rose - offenbar sehr hastig - zu Boden geworfen hatte und das nun auf ihren violetten Pantoffeln mit den weißen Bommeln lag. Liesel hob das Heft auf. Ihr fiel die Schrift der Lehrerin und die Bemerkung »Zu viele Flüchtigkeitsfehler« mit drei Ausrufezeichen auf. Später wurde ihr klar, dass Rose den Zettel ursprünglich der Puppe an die Filzhand gesteckt hatte. Nicht nur, dass dies der Neigung ihrer Tochter für theatralisch effektvolle Abgänge entsprach. Bei der herzzerbrechenden Spurensuche am Nachmittag, an der sich die ganze Familie beteiligte, fand sich die Stecknadel auf der Tagesdecke.
    »Bitte«, hatte Rose geschrieben, »sucht mich nicht. Und macht euch wegen mir keine Sorgen. Mir geht es gut. Es tut mir Leid, dass ich euch Kummer mache, aber ich konnte nicht anders. Ich werde euch immer lieben.« Das Wort »immer« war auf Kinderart mit einer Wellenlinie unterstrichen. Unterzeichnet hatte Rose mit vollem Namen, so, als hätte sie bei ihrem Aufbruch ein Dokument hinterlassen wollen, eine offizielle Verlautbarung, einen juristischen Beweis, dass sie sich ihre Flucht aus dem Elternhaus genau überlegt hatte. In winziger Blockschrift hatte sie »Ich melde mich bald« hinzugefügt.
    Liesel wurde so übel, dass sie würgte, wie sie es nur in ihrer ersten Schwangerschaft getan hatte. Trotzdem handelte sie von dem Augenblick an, da sie den Text zum zweiten Mal las, nicht anders, als sie gehandelt hätte, wenn Schmerz, Angst und Enttäuschung ihren Kopf und ihren Körper nicht in zwei Hälften gespalten hätten. Mit einer Stimme, die kaum bebte, rief sie Emil an, erzählte ihm geschäftsmäßig knapp, was geschehen war, und sagte gar: »Ich wollte es dir nur sagen. Wir sprechen heute Abend in Ruhe darüber.«
    »Ich komme sofort.«
    Die drei gleichen Worte gebrauchte David. Er hatte, kaum dass Liesel den Hörer zurück auf den Apparat legte, zu Hause angerufen. Auch dies ein Zufall am Tag der Zufälle. David hatte nicht nur seine Hausschlüssel in seinem Zimmer liegen lassen und wollte seine Rückkehr am Abend besprechen. Er hatte auch vergessen, dass seine Großmutter um die Zeit nie zu Hause war und seine Mutter bei der Berufsberatung. Anders als der Vater fügte der Sohn zum ersten Satz noch einen zweiten hinzu. »Reg’ dich bloß nicht auf, Mum«, sagte er, »ein Mädchen wie Rose steht unter dem persönlichen Schutz des Allmächtigen.«
    Martha war, als Liesel sie anrief, noch mit der Katze beim Tierarzt, Samy noch nicht weggegangen, um den Ring zu kaufen. Auch er sagte: »Ich komme sofort. Ich lege nur Martha einen Zettel hin, damit sie Bescheid weiß.«
    Emil, David und Samy trafen fast gleichzeitig ein. Wie eine Vermieterin, die zur Besichtigung einer inserierten Wohnung bittet, führte Liesel die drei in Rose’ Zimmer. Einen Moment standen alle schweigend um das Bett, Liesel und Emil rechts von der Puppe, David und Samy links. Ein nicht informierter Beobachter hätte meinen können, das erstarrte Quartett wollte sich zu einer fälligen Versöhnung die Hand reichen, ein Frommer hätte vielleicht an ein gemeinsames Gebet gedacht. Einem Maler wäre aufgefallen, wie das Sonnenlicht von dem Spiegel abprallte und das Zimmer in Farbe tauchte. Samy aber fiel auf, dass ihm der Wortlaut von Rose’ Text bekannt war.
    »Rebekka«, schluckte er, und seine Schultern wurden schmal und er klein, »bei meiner Rebekka war es genauso.
    Sie schreiben alle ihre Briefe, wenn es so weit ist.« Seine Arme schlangen sich um Liesel. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nicht in den Armen ihres eigenen Mannes weinte. Und es war auch das erste Mal, dass ihr Sohn kalkweiß wurde und sie es noch nicht einmal bemerkte.

Der Irrtum
    London, November 1970 bis Januar 1971
    Nur in großen Abständen erreichte Post von Rose ihre verstörte Familie. In dem Haus, das sie nur mit einem kleinen Koffer und einem großen Wandkalender verlassen hatte, wurde einmal wöchentlich

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