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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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kärglicher ausfallen könnten als die der schon nicht mehr zu beschreibenden Gegenwart, wagte sie nicht, die Fischpaste in den Mülleimer von Madame Versagne zu werfen.
    In ihrem abwechslungsreichen Leben hatte sich Madame nicht nur ein gesundes Fundament für ihr Alter geschaffen. Sie hatte auch drei Kinder von drei verschiedenen Männern geboren, und da sie mit ihrem eigenen Fleisch und Blut ebenso wenig auskam wie mit deren schon lange entflohenen Vätern, hatte sie ein sehr distanziertes Verhältnis zu Menschen im Allgemeinen entwickelt. Zu Tieren war sie noch immer gut und legte Wert darauf, dass man davon Kenntnis nahm. Sie fütterte Tauben, schwärmte für Schwäne, streichelte fremde Hunde und verwöhnte ihren Kater, der ihr trotz seines ausgedehnten Liebes-lebens nun schon seit neun Jahren treu war. Sie kaufte ihm Leckerbissen, die sie ihren Partnern und Söhnen, von der ständig erkälteten Tochter ganz zu schweigen, nie gegönnt hatte. Dass ihr die Tochter missbehagte, obgleich sie sich doch mindestens einmal im Monat bei der Mutter sehen ließ und fast immer mit einem Stück Zitronenseife aus Menton, wo sie als Kellnerin arbeitete, war typisch für Jeanne Versagne. Sie misstraute Frauen noch mehr als Männern. Hübsche oder gar aparte und vor allem junge Frauen hielt sie ausnahmslos für Hexen oder geistige Gift-mischerinnen. Ein entsprechender Dorn in Madames kritischem Auge war Rose.
    Tag für Tag erzählte sie ihr, sie ließe sie nur wegen dem reizenden Monsieur Pascal, der ihr schon manchen und weiß Gott keinen unbedeutenden Gefallen getan hätte, in ihrem allerbesten Salon wohnen, wobei sie absolut nicht bezweifelte, dass der arme, bedauernswerte junge Mann bestimmt ohne Verschulden in die Fänge der durchtriebenen kleinen Engländerin geraten wäre. »Die schafft es ja noch nicht einmal«, beklagte sich Madame bei ihrer Nichte, »morgens den Gruß einer einsamen alten Frau, die sehr viel in ihrem Leben mitgemacht hat, in ihrer Muttersprache zu erwidern.«
    »Die Engländer sind alle so«, wusste die Nichte, »dumm und arrogant und voller Vorurteile.«
    Jeanne Versagne hatte als kleines Mädchen Clown werden wollen. Einen gut ausgeprägten Sinn für Situationskomik hatte sie noch immer. Nachdem ihr nämlich endgültig aufgegangen war, dass sie der verschüchterten englischen Maus sagen konnte, was ihr gerade in den bösen Sinn kam, ohne dass das Opfer der wüsten Beschimpfungen auch nur die geringste Reaktion zeigte, entwickelte die verhinderte Schauspielerin einen perfiden Spaß an ihrem eigenwilligen Spiel. »Es ist«, vertraute sie ihrem Kater an, »wie früher, wenn mir ein Mann ein Glas Champagner spendiert hat. Oder zwei. Du fühlst dich wie eine Königin, und du weißt genau, dass alle anderen Erztrottel sind, die du um den Finger wickeln kannst.«
    Madame Versagne dachte sich immer neue vulgäre Beleidigungen aus. Wie eine Schlange spie sie Gift, sobald sie Rose erblickte, und am Ende dieser perversen verbalen Orgien fühlte sie sich so gereinigt wie nach dem wöchentlichen Bad am Sonntagabend. Wenigstens in dieser Beziehung zeigte das Schicksal Erbarmen mit den Schwachen. Rose blieb ahnungslos. Damals sah sie endlich ein, wenn auch zu spät, dass ihre verhasste Französischlehrerin in London keineswegs antisemitisch, sondern nur berufsbedingt aufrichtig in der Beurteilung der für Sprachen gänzlich unbegabten Schülerin Rose Procter gewesen war. Deren Verhältnis zu Französisch war nicht sehr viel anders als das von einem Hund zu einem Igel. Außer »Bonjour« und »Je suis malade« konnte Rose kaum etwas in der wohl klingenden Sprache Molieres sagen.
    Die inhaltsschweren drei Worte, die ihr Befinden betrafen, waren ihr mühevoll von Pascal beigebracht geworden, doch hatte der Lehrer wider Willen strengstens befohlen, nur im Notfall von den linguistischen Kenntnissen Gebrauch zu machen. Vorausgegangen war Folgendes: In der ersten Woche in Nizza hatte Rose zufällig den berühmten Blumenmarkt entdeckt. Daraus hatte sich eine regelmäßige Gewohnheit entwickelt. Von Stand zu Stand zu bummeln und die sorglosen, gut gekleideten Frauen zu sehen, die dort verhandelten und einkauften, gab den erschöpfend langen Tagen, in denen Rose hoffte, Pascal würde nach der Arbeit zu ihr kommen, die Struktur, die sie nötig hatte, um ihrer Angst und Verzweiflung nicht nachzugeben. Meistens suchte sie sich am Markt irgendeine Sitzgelegenheit und kaute schon in den Morgenstunden an dem Baguette, das

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