Und das Glück ist anderswo
eigentlich für ihr Abendessen gedacht war.
In der zweiten Woche ihres Aufenthalts war dann das Malheur geschehen. Just in dem Moment, da Rose an einem Strauß Narzissen gerochen und dabei umgehend an die Vorgärten in Hampstead und den Frühling zu Hause gedacht hatte, war ihr schlecht geworden. Ihr Körper hatte sich in Krämpfen gewunden, zwar höchstens eine Minute, doch in ihrer Panik hatte Rose gar gedacht, die Krämpfe wären bereits Wehen. Weil Pascal sie seiner beruflichen Belastung wegen, die seit Rose’ Ankunft immer gewaltiger geworden war, nicht mehr täglich aufsuchen konnte, war es ihr erst möglich, ihm zwei Tage später von dem Vorfall zu berichten. Sie versuchte, ihm klar zu machen, wie ratlos, verängstigt und hilflos sie gewesen war, doch Pascal hatte ihr in Französisch geantwortet. Trotz seiner umgehenden Lektion in sprachlicher erster Hilfe hatte er, wie er hervorhob, den Bericht von Roses Dilemma höchstens zur Hälfte verstanden.
Merkwürdigerweise sprach der kluge junge Mann längst nicht mehr so gut Englisch wie in London. Als Rose vor dem Kaufhaus Liberty’s gestürzt war und in der unvergesslichen Zeit, die dem Sturz folgte, hatte Pascal kaum nach einem Wort suchen müssen. Nun fehlten ihm dauernd auch alltägliche englische Vokabeln, und das ausgerechnet in Gesprächen, die äußerst wichtig für beider Zukunft waren. Rose mangelte es ihrerseits an einer psychologischen Schulung und an der Lebenserfahrung, um diese sehr männliche Charaktereigenschaft zu deuten. Dennoch beschäftigte es sie sehr, dass die gegenseitige Kommunikation auf immer größer werdende Schwierigkeiten stieß.
Keinen Zweifel gab es an dem Umstand, dass der Raum, den die phantasievolle Madame Versagne in ihrer Lust an bösartigen Übertreibungen in Gegenwart ihrer mutlosen Mieterin das grüne Boudoir zu nennen pflegte, im allgemeinen Sprachgebrauch als Kammer bezeichnet wurde. In herrschaftlichen Zeiten hatten die Besitzenden solche elenden Schlafgelegenheiten den Dienstmädchen vom Land zugewiesen, die zum ersten Mal in Stellung gingen und noch nicht beurteilen konnten, was die Brotgeber ihrem Gesinde zumuten durften, ohne Schaden am eigenen Ruf zu nehmen. Die Einrichtung, die Rose’ vorübergehende Bleibe in den Rang eines Fremdenzimmers erheben sollte, sah aus, als hätte sie ein Bühnenbildner als Symbol des Niedergangs entworfen - so exzellent passte das Mobiliar zu der vergilbten bordeauxroten Tapete, an der Kater Louis bei der Rückkehr von seinen nächtlichen Exkursionen seit fast einem Jahrzehnt seine Krallen zu schärfen pflegte. Die malträtierte Wandbekleidung hing in Fetzen herunter.
Auch der kaffeebraune Bettvorleger war ein Opfer des beherzten Katzentiers geworden. Zu riechen war ständig, dass Louis, der Liebhaber von faulendem Fisch, sobald Rose nicht zu Hause war, um ihn aus ihrem Zimmer zu scheuchen, den Teppichrest als Haustoilette benutzte. Auf die Couch aus dunkelgrünem, zerschlissenem Plüsch drosch Madame alle zwei Tage mit einem altmodischen Teppichklopfer ein, wobei sie Rose wörtlich und in Gesten zu verstehen gab, ein solches Reinigungsverfahren wäre bei früheren Gästen wahrhaftig nicht vonnöten gewesen. In dem Briefwechsel, den die heimwehkranke Rose stets für den folgenden Tag plante, der jedoch nie zustande kommen würde, nahm sie sich vor, ihrer Großmutter ganz genau den
Klopfer zu beschreiben. Bei jedem Schlag, den Madame Versagne der Couch verabreichte, erinnerte sich Rose wehmütig an die Freude, die Granny Gram Gramps immer an den Dingen gehabt hatte, die ihre Enkel als typisch deutsch empfanden. Zuweilen, wenn der Teppichklopfer auf die Sofakissen heruntersauste, hörte Rose Davids Stimme. Die war immer noch ein wenig spöttisch, aber meistens gutmütig und unerwartet beruhigend. In Nizza erschien ihr die Stimme ihres Bruders sehr viel klarer als zu Hause, auch freundlicher, als sie Rose in Erinnerung hatte; manchmal sah sie, wenn sie seine Stimme hörte, auch Davids Gesicht. Seine Sommersprossen rührten sie. Sein rötliches Haar gefiel ihr, es erschien ihr ein bewegendes Sinnbild für seine Aufrichtigkeit und Loyalität - auch ihr gegenüber. Wenn David mit ihr sprach, erblickte Rose in seinen Augen Verständnis und Anteilnahme und das Versprechen, dass er bis in alle Ewigkeit ihr Hüter sein würde. Sie dachte oft an die Streitereien mit ihrem Bruder, aber nie blickte sie im Zorn zurück. Aus der Distanz und in einer Welt, die sie verwirrte, ängstigte und
Weitere Kostenlose Bücher