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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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demütigte, erschienen ihr die alten Geschwisterfehden vollkommen bedeutungslos, eher wie die liebenswürdigen Neckereien, durch die Bruder und Schwester der Welt beweisen, dass sie trotz der scheinbaren Hitze ihrer Gefechte einander wohlgesinnt und im Ernstfall bereit sind, füreinander in den Tod zu gehen.
    Trotzdem war es Rose nicht ganz wohl, wenn sie an David dachte. Dann grübelte sie lange, wie er ihre Flucht von zu Hause aufgenommen hatte. Die Reaktion der übrigen Familie konnte sie sich gut vorstellen und tat es auch, sobald sie ihre Gedanken zurückwandern ließ. Was aber hatte wohl der Bruder, der nie strauchelte, zum schwesterlichen
    Aufbruch gesagt? Wie hatte er es aufgenommen, dass sich Rose davongestohlen hatte wie ein Dieb in der Nacht? Wenn er je erfuhr, dass der Mann, um den es ging, nicht jüdisch war, da war sie ganz sicher, würde er seine einzige Schwester für immer verachten und ächten. Und wahrscheinlich um ihre Verdammnis beten - falls es im jüdischen Glauben eine Hölle gab. David der Fromme und Reine wusste nichts von der Liebe, und Rose hatte ja immer gewusst, dass er nie von der Liebe erfahren würde. Neu war ihr nur, dass sie ihren Bruder beneidete, seitdem sie in Nizza lebte. Er wusste, wohin er gehörte. Sie aber hatte es nie wissen wollen.
    Einmal, nachdem sie voller Selbstmitleid die Paste aus Fischrogen auf ihr Baguette gestrichen hatte und ihr so übel geworden war wie sonst nur morgens beim Aufstehen, riss sie ein Blatt aus dem Schulheft, das sie bei ihrem Aufbruch aus London in allerletzter Minute in ihre Tasche gestopft hatte. »Meine liebste, liebste Gran«, schrieb sie in ihrer zierlichen Schrift. Während sie an ihre Schulzeit dachte und die Schule ihr als das Paradies erschien, das sie durch Dummheit und Hochmut für immer verwirkt hatte, fügte sie den Satz hinzu »ich wollte dir schon sehr, sehr lange schreiben«. Weiter kam sie nicht. In dieser Nacht schluchzte sich Rose, die dies selbst in den heftigsten Phasen der Pubertät nur sehr selten getan hatte, in den Schlaf - mit der niederschmetternden Erkenntnis, dass sie nie den Mut aufbringen würde, den eigenen Stolz zu überwinden, um bei ihrer Familie Hilfe zu suchen. Als sie nachts wach wurde, stellte sie sich zum ersten Mal die Frage, wer wohl bei ihr sein würde, wenn das Kind kam. In den Romanen und Geschichten, die ihr einfielen, war es immer die Mutter, die alles wusste, alles regelte, heißes
    Wasser herbeischleppte und das Neugeborene in blütenweiße Tücher wickelte. Selbst bei verheirateten Frauen! Wie überhaupt wusste eine Frau beim ersten Mal, wann es so weit war, und was machte sie mit dem Kind? Wie nährte sie es, wenn die Brüste leer blieben und das Portemonnaie ebenso leer war? Außer den Märchen, in denen ganz arme Frauen ihre Babys im Wald ausgesetzt hatten und die kleinen Würmchen dann von Königstöchtern gefunden und erzogen worden waren, fielen Rose keine entsprechenden Vorlagen ein.
    Die Couch diente als Schlafstatt. Für eine Schwangere, die bereits im vierten Monat so aussah, als wäre sie im siebten, war das Sofa zu kurz und zu zierlich und so schlecht gefedert, das Rose selbst nach einem Nickerchen von einer Viertelstunde mit pochenden Kreuzschmerzen aufwachte. Auch der einzige Stuhl im Zimmer marterte ihren schwer gewordenen Körper. Auf einem wackeligen kleinen Tisch standen eine weiße runde Porzellanschüssel mit einem Rand aus schwarzen und grünen Oliven und ein mit Wasser gefüllter Krug. »Madame möchte nicht, dass ihre Mieterinnen das Badezimmer benutzen«, hatte Pascal, ein wenig verlegen, aber doch energisch genug, um diesen heiklen Punkt ein für alle Mal abzuklären, der Mutter seines ungeborenen Kindes bei ihrer Ankunft eingeschärft.
    Die Toilette durfte Rose benutzen. »Selbstverständlich«, wie Pascal betonte. Er war, als er das sagte, kein bisschen rot geworden und hatte sich sogar die Mühe gemacht, sein Gedächtnis für die beiden englischen Worte »of course« zu durchforsten. Im Übrigen gehörte die Toilette nicht zu Madame Versagnes Wohnung. Sie war eine halbe Treppe höher gelegen und wurde auch von der sechsköpfigen Familie im ersten Stock benutzt. Rose’ Zimmer hatte zwei
    Fenster. Allerdings waren sie winzig, doch wenn sie sich weit genug hinauslehnte und den Kopf zur Linken drehte, bis er so steif wurde, als würde sie in einem Schraubstock liegen, sah sie das Mittelmeer.
    Das Wasser glänzte in der Sonne. Wenn sie indes auf einer Bank an der Promenade

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