Und das Glück ist anderswo
Unrecht an den leiblichen Söhnen, sie weniger zu lieben als die, die nicht vom gleichen Blut waren. Das Herz aber, das sich nicht maßregeln lässt, widersprach dem Kopf, der Gerechtigkeit einforderte. Dann siegte das Herz. In seinem Leben hatte der Rabbi das bis dahin nur ein einziges Mal zugelassen. Er wehrte sich nicht.
Zwar studierte David Jura in einer Welt, die nicht jüdisch war, doch lange würde er es bestimmt nicht mehr tun. Schon jetzt ging er nicht mehr regelmäßig zur Universität. Rabbi Myers hatte das gespürt, Rabbi White seine gute Ahnung bestätigt. David, so erfuhr Miriams Vater, hatte schon vor seiner Barmitzwa einen anderen Weg gesucht, andere Ziele leuchten sehen als jene, von denen sich die Assimilierten blenden lassen, wenn sie um das Goldene Kalb tanzen.
»David ist der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe«, vertraute Rabbi Myers seinem Freund an.
»Wenn Er es will«, erwiderte Rabbi White, »wird deine Frau ihn gebären.«
»Sie wird nicht«, wusste der, dem es nach David verlangte.
»Er wird sich lohnen, dass wir uns um ihn bemühen«, erklärte er seiner Frau. Er hoffte sehr, sie würde seine Scham nicht wittern, sich nicht kränken, dass ihrem Mann die
Söhne aus ihrem Leib nicht genug waren, doch sie hatte noch vor ihm Bescheid gewusst.
»Ich habe verstanden«, beruhigte sie ihn. Weil sie auch ihre Töchter liebte, wagte sie dennoch eine Frage. »Ist er nicht sehr jung, dein junger Mann?,« sagte sie.
»Er ist ein Jahr älter als Miriam. Wenn sie, so der Allmächtige es so bestimmt, einhundertundzwanzig ist, wird sich der Altersunterschied ausgeglichen haben.«
»Und wie soll er eine Wohnung bezahlen, wie die Töpfe für das Fleisch, das Geschirr für das Milchige und das für Pessach? Und wie soll ein Mann, der keine Stellung hat, zu einem Telefon kommen, um nachts nach dem Arzt zu rufen, wenn sein Kind auf die Welt will?«
»Hat Abraham telefoniert, als es bei Sara so weit war?« Die Frau knetete ihre Hände. Verlegenheit brannte ihr Gesicht rot, aber sie gab nicht auf. Noch nicht. »Wovon sollen sie leben? Er studiert doch noch. Sein Vater bezahlt sein Leben.«
»Hat der Mensch nur einen Vater? Du sprichst wie eine, die nur fragen kann und nicht zu glauben gelernt hat. Er wird nicht mehr lange studieren. Er will lernen. Man hat es mir gesagt.«
»An unserer Schule suchen sie einen Lehrer«, wusste Miriams Mutter, als sie die Partie verloren gab.
»Jetzt sprichst du wie eine, die wie ein Mann denkt«, lobte der Rabbi.
Von dem Tag an, da er und seine Frau sich über Wunsch, Verfahrensweise und Ziel im Klaren war, musste Miriam dem jungen Lehrer ihres Bruders regelmäßig Tee mit Honig bringen. Damit David die Absicht nicht vor der Zeit witterte, wurde Simon weiterhin eine Stunde nach der Mittagsmahlzeit von seiner Schwester eine Tablette überbracht. Es war freilich eine andere als die ursprüngliche gegen den Husten, denn Simon war längst wieder gesund. Nun verrichtete ein Bonbon aus Traubenzucker Vermittlungsdienste - Traubenzucker war unschädlich und gab dem Kopf Nahrung. Bald war es so weit. Rabbi Myers lud David ein, mit seiner Familie den Sabbat zu empfangen. In der Woche nach dem ersten gemeinsamen Mahl sagte er nur im fragenden Ton: »Du kommst doch, David?« Nach dem dritten Mal lud er ihn nicht mehr mit Worten ein. Der gemeinsame Freitagabend war eine Selbstverständlichkeit geworden. David saß neben dem Rabbi, Miriam zu seiner Linken. Sie trug ein helles Kleid, und immer öfters sprach sie mit David, ohne abzuwarten, ob er sie anreden wollte.
Vor dem ersten Mal wurde es David schwer, seinen Eltern von der anstehenden Veränderung zu erzählen. Bis dahin hatte er Simon nur vage und Rabbi Myers noch nie erwähnt. Trotzdem konnte er sich das Gespräch, das zu Hause fällig war, genau vorstellen. Schon als Kind hatte er sich immer gewundert, wie schnell seine Mutter eine Fährte aufnahm und mit welcher Sicherheit sie komplizierte, für ihre Kinder unangenehme Zusammenhänge analysierte. Nun scheute sich David nicht so sehr, den verborgenen Teil seines Lebens zu offenbaren. Noch mehr fürchtete er, die zu kränken, die er liebte. Seit seinem zehnten Lebensjahr war ihm klar gewesen, dass seine Eltern und die Großmutter nur der Kinder wegen am Freitagabend den Sabbat zelebrierten. Umso mehr belastete es ihn, eingestehen zu müssen, dass ihm die häusliche Tradition nicht mehr genügte.
Auch da war der Zeitpunkt, sich der Konfrontation zu stellen, nicht vom
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